Weihnachten und verblasste Mythen

Von Sibylle Tönnies · 25.12.2006
Das Weihnachtsfest ist vorbei – es lebe das Weihnachtsfest! Denn <em> eigentlich </em> fängt Weihnachten heute erst an. Der Heilige Abend ist <em> eigentlich </em> nur ein Vorabend, und bekanntlich hat sich in anderen Ländern die Sitte erhalten, die Geschenke erst heute in Erscheinung treten zu lassen - in Strümpfen zum Beispiel, die am Bettpfosten hängen.
Wir Deutschen können uns entspannen. Alle Kinder, Eltern, Onkel und Tanten haben ihre Geschenke gekriegt und sind mehr oder weniger zufrieden, das ganze Geraschel und Gewisper und die kleinen Freudenschreie – das haben wir glücklich hinter uns. Weihnachten kann anfangen. Wir können die Beine hochlegen.

Wenn wir das konsequent tun, wenn wir uns konsequent entspannen und keine Arbeit anfassen, dann feiern wir Weihnachten in seiner alten, vorchristlichen Bedeutung. Die Zeit der geweihten Nächte war eine große kollektive Arbeitsruhe. In einer Zeit ohne Gewerkschaften wurde die Arbeitsruhe als religiöse Pflicht begründet, die ohne Unterschied für alle galt. Herr und Knecht gleichermaßen mussten einen zwölftägigen Sabbat halten. Und wehe dem Herrn, der seinen Knecht zur Arbeit anhielt!

Die Nacht zum 25. Dezember war die erste von zwölf Heiligen Nächten – sie reichten bis zum Dreikönigstag, dem sechsten Januar, der auch "großes Neujahr" genannt wurde. In dieser Zeit "zwischen den Jahren" durfte nichts getan werden außer dem notwendigen Minimum. Deshalb musste wochenlang vorher gebacken und geschlachtet, gepökelt und geräuchert, gebraut und gekeltert und der Flachs von den Spinnrocken abgesponnen werden: damit zwölf Tage lang Ruhe war, damit es nichts zu tun gab außer das Vieh zu versorgen und den Menschen die vorbereiteten Leckereien auf den Tisch zu stellen.

Die Nächte, die wir jetzt vor uns haben, führen in den matriarchalischen Urgrund unserer Kultur zurück. Denn in dieser Zeit geht Frau Holle draußen um. Sie geistert in der schlafenden Natur umher, in den schweigenden Wäldern und der verdorrten Heide - am liebsten da, wo sie ihren Strauch findet, den Hollunder. Wir kennen diese Große Mutter nur noch aus dem Grimmschen Märchen. Tatsächlich aber ist sie - manchmal auch unter anderen Namen (Hulda, Holda oder auch Frau Harke) - die weibliche Obergottheit der Germanen. Sie ist die Wächterin des Lebens, und sie übt ihr Amt in der Weise aus, dass sie die Frauen und Mädchen unter scharfe Beobachtung stellt, damit sie ihre Pflichten nicht versäumen.

Es gehörte ein zäher Fleiß dazu, damit eine Gemeinschaft den Winter in nördlichen Breiten überleben konnte, unermüdliche Arbeit von früh bis spät - und Spinnen am Abend. Damit wollene Kleidung da war für alle und leinenes Bettzeug und Windeln für die Kleinen. Die Betten mussten trocken sein und frei von Ungeziefer – das war lebenswichtig. So dass man die Decken jeden Morgen kräftig auszuschütteln hatte. Dafür ist Frau Holle denn ja auch bis heute bekannt: dass sie den allergrößten Wert auf gut gelüftete Federbetten legte. Aber auch sonst war sie unerbittlich. Faule Frauen und Mädchen wurden gnadenlos bestraft. Die Pechmarie, die mit einer Ladung Pech übergossen wird, ist nur eins von vielen warnenden Beispielen, die in den Frau-Holle-Sagen erhalten sind.

In den heiligen Tagen und Nächten, "zwischen den Jahren" aber nimmt Frau Holle eine umgekehrte Rolle ein: Sie passt auf, dass die Sabbatruhe eingehalten wird. Wenn sie da nachts in der erstarrten Natur umhergeistert, guckt sie ganz überraschend in das eine oder andere Fenster – und wehe, sie erwischt jemanden beim Arbeiten! Die Strafe ist furchtbar. Meistens lässt sie ein Unwetter aufkommen und dann fliegen in einem Haus, in dem womöglich Brot gebacken, gewaschen oder gesponnen wird, die Fenster raus; in schweren Fällen werden die Menschen gleich mit hinausgezogen und müssen sehen, dass sie sich in den Baumkronen festhalten können. Diese Vorstellung hatte gute Wirkungen. Wer wollte seine Leute unter diesen Bedingungen wohl zur Arbeit zwingen? Es war Zeit für eine große ausgedehnte Party.

Frau Holle, die ursprünglich Frigga ist oder Freya, ist nicht nur für das Leben zuständig, sondern auch für den Tod. Sie ist gleichzeitig Hel, die Todesgöttin; sie trägt die Ambivalenz in sich, die die Figur der Großen Mutter in allen Kulturen kennzeichnet: sie ist gleichzeitig lebensspendend und todbringend. Die Göttin Hel wohnt in Niflheim, der Nebelwelt, bei den Toten, und ihre Farbe ist bleich und blau. Wenn sie in den Heiligen Nächten umgeht, hat sie die Toten in ihrem Gefolge. Was schon die Germanen unheimlich fanden. Sie hatten Angst, und diese Angst, die in der dunkelsten Zeit des Jahres leicht überhand nimmt, konnten ihre Mythen ihnen nicht nehmen - und auch die große Party nicht. Der christliche Gedanke, dass in diesen Nächten ein Licht aufgeht, dass sich Liebe und Verzeihen in einem Kind verkörpern, das die Herrschaft über die bösen Geister übernimmt, entfaltete deshalb einen unwiderstehlichen Reiz. Es hat seine guten Gründe, wenn der Respekt vor Frau Holle in den letzten zweitausend Jahren so stark abgenommen hat.

Aber ein bisschen sollte sich man sich doch weiterhin vorsehen! Auf keinen Fall sollte man jetzt Wäsche waschen! Bis zum Dreikönigstag kann man, wenn man sich Mühe gibt, auskommen. Denn das Wäschewaschen hat Frau Holle immer besonders streng geahndet. Auch lässt sich denken, dass sie es lieber sieht, wenn die Notebook-Deckel jetzt geschlossen bleiben. Vielleicht stehen ihr scheußliche Viren zur Verfügung. Nicht einmal an seinen Kindern rum-erziehen sollte man in dieser geweihten Zeit. Nur insofern sollte man sie zügeln, als man sie an jeder nützlichen Tätigkeit hindert.

Sibylle Tönnies, Juristin, Soziologin, Publizistin, 1944 in Potsdam geboren, studierte Jura und Soziologie. Sie arbeitete zunächst als Rechtsanwältin und war Professorin im Fachbereich Sozialwesen der Hochschule Bremen. Zu Ihren zahlreichen Veröffentlichungen zählen die Bücher "Der westliche Universalismus", "Linker Salon-Atavismus" und "Pazifismus passé?".