Weibliche Selbstverwirklichung in den biederen 50er Jahren

16.11.2006
Ulrike Edschmid erzählt in ihrem autobiografisch gefärbten Roman "Die Liebhaber meiner Mutter" vom Versuch einer Frau nach Kriegsende, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen und selbst zu bestimmen. Die eigenwillige Mutter bestimmt auf ihrer Suche nach Glück auch Dauer und Ende ihrer Liebschaften, in einer Zeit, als die Trümmerfrauen längst an den heimischen Herd zurückgekehrt waren.
Die Zeit der Abrechnungen scheint vorbei. Verflogen die Epoche, als in den Väter- und Mütterromanen die Fragen nach Schuld und Verstrickung in der Nazizeit an der Tagesordnung waren. Nach den Jahren der Anklage lässt die Generation der im Krieg Geborenen heute eher Milde walten, hatte man doch seither selbst in Sachen Ideologie einiges an Schiffbrüchen durchzustehen. Das eröffnet neue Perspektiven - auf die eigene Herkunft natürlich.

Erlaubt scheint aber nun auch ein Blick auf die Eltern, jenseits von ihrer Rolle in der Familie. Urs Widmer erzählte davon im "Geliebten meiner Mutter" (2000) und im "Buch des Vaters" (2004). In diesem Herbst präsentierte F.C. Delius ein "Bildnis der Mutter als junge Frau". Und Ulrike Edschmid erzählt von ihrer Mutter und ihren Liebhabern im Nachkriegsdeutschland.

Die Lebensdaten der sich an ihre Kindheit und Jugend erinnernden Ich-Erzählerin stimmen mit denen der Autorin überein. Man darf also getrost von einem autobiografisch gefärbten Roman sprechen. Beide sind 1940 in Berlin geboren und in der Rhön aufgewachsen. Dort, auf einer mittelalterlichen Burg, hat die Mutter gegen Kriegsende mit Sohn und Tochter Zuflucht gefunden, trotz der äußeren Not ein behüteter Ort. Der Vater ist in Russland gefallen, sie ernährt die Kinder mit Webarbeiten, später zieht sie von Tür zu Tür und verkauft Tischdecken. Wie so viele lässt sie sich nicht unterkriegen, mehr noch, sie versteht es, sich ihr Glück zu nehmen, wo sie es zu finden meint.

Liebhaber tauchen auf und gehen. Ein Student, eigentlich der Geliebte einer Freundin, ein amerikanischer Offizier, der mit den Befreiern gekommen ist und nach ein paar Monaten mit seiner Einheit wieder abgezogen wird, ein galant um sie werbender Flieger, dessen glänzende Erscheinung nicht die fehlende Substanz für ein gemeinsames Leben wettmachen konnte, der schwermütige Flötist, den der Krieg gebrochen hat, der Schmetterlinge sammelnde Hausarzt, der einsam tanzende Wunderheiler, der reiche Geschäftsmann aus Düsseldorf, der sie mit einem Schlag von allen Geldsorgen befreien könnte - doch ein schmückendes Apercu möchte sie nicht sein. Alle nehmen offenbar die Entscheidung der Mutter hin. Dass es nie zu Konflikten zwischen ihnen und den Kindern kommt, mag idealisiert erscheinen, liegt letztlich daran, dass deren Perspektive nahezu ausgeblendet wird.

Was im Titel des Buches so frivol klingt, führt auf eine falsche Fährte. Um erotische Eskapaden geht es nämlich nicht, vielmehr darum, wie eine Frau, lange bevor dieses Wort Einzug in die Ratgeberliteratur gehalten hat, sich selbst verwirklicht. Überraschend an ihr ist, wie lange und wie beharrlich sie sich ihre Selbständigkeit, die neue Unbestimmtheit ihres Lebens zu bewahren weiß. Um sie herum sind die Trümmerfrauen längst an den Herd zurückgekehrt, die gesellschaftliche Ordnung ist wiederhergestellt, ebenso die der Geschlechterverhältnisse. Da ist die Mutter noch immer auf der Suche.

Wen immer die Mutter kennen lernt, sie bestimmt, wann die Zeit um ist, weil das erhoffte Glück sich nicht einstellt. Das scheint ohne Schmerzen abzugehen, außer bei dem einen, den sie hatte ziehen lassen müssen. Ihr erster Mann, Segelflieger und Architekt, der freiwillig in Hitlers Krieg ging, kam nicht mehr zurück. Über diesen Verlust kommt sie kaum hinweg, er leitet alle Versuche, ein neues Leben zu beginnen.

Beeindruckend ist die Eigenwilligkeit der Mutter, die nach dem entscheidenden Umbruch, dem sie tatenlos zusehen musste, ihr Leben selber in die Hand nimmt, sich nicht mehr aufzugeben bereit ist. Darin folgt sie keinem Vorbild, denn, "für das Neue, das meine Mutter empfand, gab es keine Übereinkunft, keine Geschichte, an die sie sich hätte halten, nichts, woraus Bilder von Zukunft hätten aufsteigen können." Sie selbst aber gibt durchaus ein Muster für künftige Generationen ab.

Auch beruflich geht die Mutter neue Wege. Mit über 40 Jahren nimmt sie das in ihrer Ehe abgebrochene Pädagogikstudium wieder auf, wird Lehrerin und findet dann doch den Mann, mit dem sie eine zweite Ehe eingeht, einen sanftmütig-eigenwilligen und grüblerischen Menschen, der Agaven züchtet, Autos und Montaigne liebt.

Aus großer Ferne blickt Ulrike Edschmid, die Schwiegertochter des 1966 verstorbenen Schriftstellers Kasimir Edschmid, zurück auf jene Zwischenzeit, in der die vergangene Welt in Trümmern lag und eine andere sich als Versprechen ankündigte, auf Wirtschaftswunder und die große Restauration. In Nebenbemerkungen nur macht sie die Zeitgeschichte transparent, ihre Stärke liegt in den kleinen Zeichen und feinen Andeutungen.

Ohne eine Spur von Sentimentalität erzählt sie unprätentiös, mit Empathie, doch voller Zurückhaltung. Mit sicheren, knappen Strichen, einer auf einen melancholischen Grundton gestimmten Sprache, gelegentlichen Ausflügen in Sarkasmus und Ironie, Haltungen, die auch dem entsprechen, was die Tochter von der Mutter als Tonfall behauptet, verzichtet sie gekonnt auf jegliches Pathos. "Die Liebhaber meiner Mutter" ist ein wunderbar schlichtes und gerade deshalb ergreifendes Buch.

Eine Geschichte, die, wie man so leicht dahinsagt, das Leben schrieb - wenn nicht Ulrike Edschmid sie noch viel besser geschrieben hätte. Eine nachgetragene Liebeserklärung voll der schönsten Poesie.

Rezensiert von Edelgard Abenstein


Ulrike Edschmid: Die Liebhaber meiner Mutter
Insel Verlag, Frankfurt am Main 2006
151 Seiten, 16,80 Euro