Wege zu einem stärkeren Wirtschaftsrecht

Rezensiert von Peter-Alexis Albrecht · 30.09.2012
Die Finanzkrise hat den Ruf nach einem strengeren Wirtschaftsstrafrecht lauter werden lassen. Selbst bei schweren Vergehen in Politik und Wirtschaft war die Justiz bislang nahezu machtlos. Der Frankfurter Rechtsphilosoph Wolfgang Naucke zeigt, dass sich das ändern könnte - und sollte.
Ist es eigentlich vorstellbar, Mächtige aus Politik und Wirtschaft wegen schädigender Wirtschaftsverläufe, die sie beeinflussen, mit dem Strafrecht zu konfrontieren? Das ist nicht nur vorstellbar, das ist rechtlich zwingend, sagt der Frankfurter Strafrechtslehrer Wolfgang Naucke in seiner packenden wissenschaftlichen Analyse über politische Wirtschaftsstraftaten. Die Lektüre dieser Schrift von hundert Seiten ist eine Sternstunde für Wahrheitssuchende.

Er bringt wissenschaftliche Ordnung in ein höchst relevantes Feld der Wirtschafts- und Finanzpolitik. Zunächst ermittelt er die Aufgabe demokratischen Strafrechts: Es hat Kontrolle auszuüben zugunsten menschlicher Freiheit gegenüber jeder Macht, die diese Freiheit bedroht. Freiheit ist das einzige Recht, das auch jeder Machtlose hat. Die Freiheit der Person ist unverletzlich, sagt die Verfassung. Und die Realität?

Indem politische Entscheidungen und unternehmerisches Handeln das Wirtschaftssystem beeinflussen und gestalten, negativ gesprochen auch manipulieren und schädigen können, fördern oder nutzen sie wirtschaftliche Macht. Gehe diese massiv zu Lasten der Freiheit des Einzelnen, stelle dies eindeutig strafrechtliches Unrecht dar: den Missbrauch wirtschaftlicher Macht.

""Bei Staatsführern wie bei Wirtschaftsführern geht es um die gleiche Erscheinung. Beide haben Macht. Setzen sie diese Macht gegen die Freiheit des einzelnen machtlosen Menschen ein, so wird das rechtsstaatliche Strafrecht zum Erfüllen seiner wichtigsten Aufgabe gebracht: Macht zu verwerfen durch Bestrafung unbegründbarer Machtausübung." (S. 10)"

Es gibt bereits ein Kapitalmarkt- und Börsenstrafrecht, das Anleger, Gläubiger und insgesamt die Finanzbranche schützt, nicht aber ein marktkritisches Wirtschafts- und Finanzmarktstrafrecht, das die Freiheitsrechte jedes einzelnen Bürgers sichert. Höchstens Spuren finden sich in der Rechtsentwicklung, die Wolfgang Naucke juristisch akribisch nachzeichnet.

In den Nürnberger Wirtschaftsstrafprozessen der Nachkriegszeit wurden die Industriellen Friedrich Flick und Alfried Krupp und die leitenden Angestellten der IG Farben wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt, weil sie sich mit ihren Unternehmen am Zwangsarbeiterprogramm der Nationalsozialisten beteiligt hatten.

Auch die Strafverfahren gegen Erich Honecker und andere ehemalige Spitzenpolitiker der SED wurden 1990 ursprünglich mit einem Wirtschaftsdelikt eröffnet, dem Vorwurf des wirtschaftlichen Hochverrates.

Schließlich wurde 2010 ein früherer isländischer Ministerpräsident strafrechtlich dafür haftbar gemacht, dass er an der aktuellen Finanzkrise und den desaströsen Folgen für viele Bürger seines Landes mitverantwortlich gewesen ist.

""Das Nutzen von Wirtschaftsmacht ist politische Straftat, wenn diese Macht viele Menschen um ihre Freiheit bringt, und das Nutzen von Wirtschaftsmacht ist politische Straftat, wenn diese Macht das verfasste gesellschaftliche System selbst, das der Freiheit dienen soll, beschädigt oder zerstört." (S. 61)"

Die historischen Spuren belegen: Der Missbrauch von Wirtschaftsmacht wurde als Straftat – ob mit Vorsatz oder fahrlässig begangen – durchaus erfolgreich einzelnen Mächtigen zugerechnet.

Der strafrechtliche Zugriff darf sich nicht von der Ausrede blenden lassen, wirtschafts- und finanzpolitische Krisen seien – wie Naturereignisse – unbeherrschbaren Katastrophen gleichzustellen. Wolfgang Naucke weist zu Recht darauf hin, dass der Versuch, finanzielle Großverläufe als unausweichlich, als unsteuerbar durch einzelne Personen aufzufassen, schon in den Nürnberger Prozessen gescheitert ist.

Die weitere wissenschaftliche Spurensuche lässt ihn neuere deutsche Gerichtsentscheidungen analysieren. Prinzipiell sei es fehlgeschlagen, politische Wirtschaftsstraftaten über die Normen des Strafgesetzbuches, insbesondere der wirtschaftlichen Untreue, dingfest zu machen. Das zeigten die Verfahren zu nicht erlaubten Parteispenden und sogenannten schwarzen Kassen. Meist folgten Verfahrenseinstellungen gegen hohe Geldleistungen, aber eben ohne jede öffentliche Kontrolle im Laufe eines Strafprozesses.

Währenddessen gelingt es Akteuren, die als systemrelevant bezeichnet werden, straflos Druck auf Exekutive und Legislative auszuüben. Erst wird Banken, Konzernen, Branchen erlaubt, eine so große Marktmacht aufzubauen, dass sie im zweiten Schritt darauf vertrauen können, der Staat werde jedem Einfluss nachgeben, jeden Misserfolg finanziell auffangen, weil sie ob ihrer Größe niemals scheitern dürften.

Die Gefahren eines solchen "moral hazard" werden durchaus öffentlich diskutiert. Die Politiker in Exekutive und Legislative beugen sich aber im Krisenmanagement der Wirtschaftsmacht und interpretieren sie in eine scheinbar unabhängige politische Entscheidung um. Dies sei ein Freibrief für eine Beengung jener republikanischen Institutionen, deren Aufgabe gerade der Schutz der Freiheit gegen wirtschaftliche und finanzielle Macht ist.

Eine weitere Annäherung an die "politische Wirtschaftsstraftat" ist der Begriff der ‚Deregulierung‘. Das bedeutet für den Finanzmarkt Dispens von gesetzlicher Kanalisierung. Sie verringert die Möglichkeit, individuelle Verantwortlichkeit festzustellen und opfert diese der Logik des deregulierten Finanzmarktes. Es wird – selbst von Juristen – ein "Freihalten und Sichern eines Kernbereichs" gefordert, in dem die "Wirtschaft ihrer eigenen Vernunft folgt". Aber was ist das für eine seltsame Vernunft? Hinter der Deregulierung stand klarer politischer Vorsatz. Das ist der Anknüpfungspunkt für strafrechtliche Verantwortung.

Ein rechtsstaatliches Wirtschafts- und Finanzstrafrecht muss – so Naucke – das Grundanliegen modernen Rechts ergänzen: die Kontrolle jeder Macht über die menschliche Freiheit. Es muss neben einem allgemeinen Völkerstrafrecht und einem speziellen Wirtschaftsvölkerstrafrecht wirksam sein. Soweit die rechtswissenschaftliche Analyse.

Die Änderung des Strafrechts im Sinne der Nauckeschen "Annäherung" ist ein Problem der Verfassung der freiheitssichernden Demokratie. Es ist ein politisches Problem. Ob es bewältigt wird, ist Sache der Bürgerinnen und Bürger. Es dürfte vermutlich lange dauern und schwierig werden – wie es die quälende Geschichte des Völkerstrafrechts belegt. Dieses gibt es erst seit 2002. Aber immerhin, es enthält einen Ansatz.

""Epochemachend ist allein das Aufheben der globalen Denkart, dass das Strafrecht ein Recht des Machthabers gegen den Machtunterworfenen ist, der Machthaber selbst aber nicht bestraft werden kann." (S. 15)"

Die eindrucksvolle Rechtsprechung des Europäischen Menschengerichtshofs zur Verantwortlichkeit früherer Staatsführer der DDR ist eindeutig: Verstöße gegen Menschenrechte sind immer strafbares Unrecht, egal wann, wo oder wie sie die Freiheit und das Leben der Menschen zerstören. Und das gilt auch – wie es Wolfgang Naucke wissenschaftlich und mutig nachweist – für schweres politisches Wirtschaftsunrecht, das die Lebensgrundlagen von Gesellschaften vernichtet.

Wolfgang Naucke: "Der Begriff der politischen Wirtschaftsstraftat. Eine Annäherung"
LIT Verlag Münster, 2012