Was zu einem Mord führt

Ein Tatort nach der Spurensicherung
Ein Tatort nach der Spurensicherung © Stock.XCHNG / Nate Nolting
Rezensiert von Ralf bei der Kellen · 29.03.2006
Aus den Medien erfahren wir immer nur einen Bruchteil der Umstände, die dazu führen, dass Menschen andere Menschen töten. Dorothee Frank stellt in ihrem Buch genau diese Komplexität der Fälle wie der an ihnen beteiligten Persönlichkeiten dar. Sie hat unter anderen mit verurteilten Mördern und mit Psychologen gesprochen.
Dass Menschen andere Menschen töten, wissen wir alle, fast täglich beschäftigen sich die Medien damit. Warum sollte man zu diesem Thema noch ein Buch lesen?

Aus den Medien erfahren wir immer nur einen Bruchteil der Umstände, die dazu führen, dass Menschen andere Menschen töten. Dorothee Frank stellt genau diese Komplexität der Fälle wie der an ihnen beteiligten Persönlichkeiten dar. Für ihr Buch hat sie sich tief in das Thema eingearbeitet, sie hat Interviews mit verurteilten Mördern, Kriegsverbrechern, Henkern Terroristen und den Opfern ihrer Taten geführt, sie hat u. a. mit Psychologen, Psychiatern, Hirnforschern, Historikern, Juristen, Verhaltensbiologen gesprochen oder deren Werke eingearbeitet, sie zitiert aus Philosophie und Literatur. Das Buch ist eine Art "interdisziplinärer Zusammenschau" zum Thema, wie sie für den deutschen Sprachraum bislang einmalig sein dürfte.

Nach dem Massaker, das zwei Schüler 1999 in der Columbine Highschool im US-Bundesstaat Colorado anrichteten, sagte der damalige Präsident Bill Clinton: "Vielleicht werden wir es niemals richtig verstehen." Kann dieses Buch da Abhilfe leisten?

Ja. Das Thema des Tötens ist eines der letzten Tabuthemen unserer Gesellschaft. Dieser Ausspruch Clintons sagt etwas ganz Grundsätzliches über unser Verhalten aus, wenn wir mit solchen Taten konfrontiert sind. In der Berichterstattung der Massenmedien über Morde z. B. wird von den Tätern oft als "Bestien" gesprochen. Auf diese Art und Weise wird schon auf der rhetorischen Ebene ein Graben gezogen zwischen den "normalen Menschen" und den Tätern. Diese Rhetorik kann man als eine kollektive psychische Abwehr des eigenen Gewaltpotentials deuten.

Dorothea Frank lässt in ihrem Buch eine solche Distanz nicht zu. Sie zeigt uns die Täter wie auch die Opfer als Menschen wie du und ich, die häufig aufgrund besonderer Umstände zu Tätern bzw. Opfern werden. Die meisten der ca. 900 Morde, die hierzulande pro Jahr geschehen, werden tatsächlich von "ganz normalen Menschen" begangen und eben nicht von psychisch hochgradig abnormen Tätern, wie es einem die Medien immer wieder suggerieren. Das heißt aber nicht, dass Frau Frank den Tätern Absolution erteilen würde, das zu keiner Zeit. Sie sagt nur, dass wir alle diese Voraussetzungen in uns haben. Das zu erkennen ist oft nicht einfach, es ist geradezu unangenehm.

Nun werden in diesem Buch ja auch einzelne Mordfälle und die in sie verwickelten Personen vorgestellt. Gerät man da nicht doch in die Gefahr, das Ganze wie einen Krimi zu lesen?

Auch mir ist das gelegentlich passiert - und das hat auch wieder mit der Tabuisierung dieses Themas zu tun. Aus dieser geradezu bequemen, distanzierten Lesart holt einen die Autorin aber heraus, indem sie durch die Mitteilung ihrer persönlichen Erfahrung und Betroffenheit den Leser immer wieder in das Thema hineinzieht und ihm die Täter wie Opfer sehr nahe kommen lässt.

Besonders bewegend ist ihre Darstellung der Geschichte von Pat Magee und Jo Berry. Magee gehörte in den 70er und 80er Jahren der irischen Terrorgruppe IRA an und verübte 1984 einen Bombenanschlag, der fünf Abgeordnete des britischen Unterhauses in den Tod riss. Einer von ihnen war Sir Anthony Berry, der Vater von Jo Berry. Die Tochter, die ihren Vater verloren hat, kommt mit dem Verlust wie die meisten Hinterbliebenen nicht zurecht. Irgendwann wird ihr klar, dass sie etwas tun muss. Sie reist nach Irland, um das Land kennen zu lernen und nimmt dort schließlich an einem Treffen mit ehemaligen IRA-Angehörigen teil.

Im Interview beschreibt sie ihre Gefühle, sie denkt, sie verrate den Vater, wenn sie sich mit diesen Menschen anfreunde. Nach einem der Treffen muss sie stundenlang weinen und fragt sich schließlich: "Wenn ich mich mit den Leuten anfreunden kann, die meinen Vater getötet haben, warum musste er dann sterben?"

Plötzlich wird ihr bewusst, dass der Abgrund, von dem sie dachte, dass er sie von diesen Menschen trennt, eigentlich nicht existiert. Das bringt sie dazu, ein Treffen mit Pat Magee zu vereinbaren, dem Mörder ihres Vaters. Die Geschichte dieser beiden zeigt, dass es so etwas wie Aussöhnung nach einem Mord geben kann, dass es einen Lernprozess gibt. Sie wirbt für den Versuch, den anderen zu verstehen - so paradox das auch klingen mag.

Es bleibt die Frage, warum Menschen töten. Kommt die Autorin zu einem Ergebnis? Kann es bei einem so komplexen Thema überhaupt eines geben?

Ja. Als verbindendes Moment fast aller Tötenden beschreibt Dorothee Frank, dass diese Menschen Hass, Angst, Wut, verletztes Selbstwertgefühl, Rache oder Machthunger über lange Zeit aufstauen. Irgendwann bricht der Damm und sie überwinden ihre Tötungshemmung. Deshalb ist ziviler Mord auch so rar, denn der Mörder handelt ja gegen den moralischen "Bremswiderstand" einer ganzen Gesellschaft.

Beim Töten im Krieg, bei staatlich angeordneten Hinrichtungen und bei Terrorakten ist es aber so, dass militärische und politische Führer den Ausführenden die Verantwortung abnehmen. Sie autorisieren Mord und Atomisieren die Schuld. Allen diesen Menschen ist eines ganz grundsätzlich gemeinsam: Sie können töten, weil sie sich von ihrem Opfer vollkommen distanzieren. Es ist das Verweigern von Empathie, was nach Meinung der Autorin allen Tötenden in diesem Buch gemein ist.

Auf der anderen Seite sind Egoismus, Angst, Hass, Rache, Machtstreben normale menschliche Reaktionen. "Damit solche Antriebe zum Töten führen, braucht es besondere Umstände, aber nicht besondere Menschen", konstatiert die Autorin am Ende ihres Buches.

Wer ist die Autorin und wie kam sie zu dem Thema?

Dorothee Frank wurde 1961 geboren. Sie studierte Musikwissenschaften und Klavier, brach die Ausbildung vorzeitig ab und wechselte 1992 ins Medienfach. Sie arbeitet vor allem für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk in der Schweiz und in Deutschland und ist Kulturredakteurin beim Radiosender Österreich 1. 2003 und 2004 liefen dort zwei lange Features von ihr, auf denen dieses Buch basiert.


Dorothee Frank: Menschen töten
Walter Verlag,
220 Seiten, 18 Euro.