"Was wäre wenn...?"

Wenn die Fantasie die Macht übernimmt

Adolf Hitler im September 1943
Adolf Hitler im September 1943 © dpa / picture alliance / Ullstein
Von Dietmar Süß · 04.10.2014
Was wäre passiert, wenn Hitler den Krieg gewonnen hätte? Derlei Spekulationen sind in Wissenschaft und Literatur begehrt. Eindrucksvoll entlarvt sie der Historiker Richard Evans in "Veränderte Vergangenheiten" als Vereinfachungen, die die Macht einzelner Akteure überbetonen.
Wie wäre wohl die deutsche Geschichte verlaufen, wenn die Polizei am 9. Oktober 1989 in Leipzig in die Masse der Montagsdemonstranten geschossen hätte? Von einer friedlichen Revolution würden wir wohl heute nicht mehr sprechen. Und was wäre gewesen, wenn die Kugel des Attentäters Erzherzog Franz Ferdinand verfehlt und der Thronfolger Österreich-Ungarns nicht an jenem denkwürdigen 28. Juni 1914 ermordet worden wäre? Wäre Europa dann ein friedlicher Kontinent geblieben? Ohne Krieg, Gewalt und Massenmord?
Eine schöne Vorstellung – und doch eine wilde Spekulation. Diese Frage hat nicht nur Historiker immer schon fasziniert: Was wäre wenn...? Kontrafaktisches Erzählen nennt man dieses Nachdenken über "veränderte Vergangenheiten". Richard Evans, der renommierte britische Historiker aus Cambridge, hat darüber ein anregendes Buch geschrieben. Und sich die Frage gestellt: Worin liegt die Faszination, die Geschichte im Rückblick zu verändern?
Evans Vermutung lautet:
"Aus Frustration über die Komplexität und Ungewissheit des modernen Lebens ziehen moderne Leser dem realen Mittelalter die Mittelerde aus Tolkiens Herr der Ringe vor [...]. Besonders attraktiv sind derlei Fantasiewelten in Zeiten, die von politischen und kulturellen Ängsten, Ungewissheiten, Krisen oder Enttäuschungen geprägt sind."
"Wunschdenken ist allgegenwärtig"
Der britische Historiker und ausgewiesene Kenner der deutschen Geschichte lässt von Beginn an keinen Zweifel, was er von Versuchen hält, kontrafaktische Geschichte als seriöse Wissenschaft zu verkaufen: nichts. Vielfach würden Historiker, die sich für ihre Gedankenexperimente vernünftige Beschränkungen überlegen, im Rausch des Spekulierens alle guten Vorsätze vergessen. Und: In der Praxis seien die kontrafaktischen Szenarien oftmals ein, wie er das formuliert, "Monopol der Konservativen".
Eine kluge Beobachtung. Denn: Viele der alternativen Geschichtsentwürfe leben vom Glauben an die Heldengeschichte der angeblichen "großen Männer, die Geschichte machten". Oder sie betonen bis zum Überdruss den "freien Willen" der Menschen gegen einen angeblichen linken Determinismus, der allzu laut von Strukturen, Prozessen und Zwängen sprach.
Buchcover: "Veränderte Vergangenheiten" von Richard J. Evans
Buchcover: "Veränderte Vergangenheiten" von Richard J. Evans© DVA Sachbuch
Viele Beispiele und Gegner, an denen sich Evans abarbeitet, sind in Großbritannien und in den USA beheimatet. Für deutsche Leser kann das ermüdend sein, etwa wenn sich Evans seitenlang mit seinem Lieblingsfeind, Niall Fergusson, und dessen auch ins Deutsche übersetzen "Virtuellen Geschichte" auseinandersetzt.
Beispiele gibt es viele. Wäre es für Winston Churchill und die britische Politik besser gewesen, 1940 nicht auf Krieg, sondern auf Neutralität oder Ausgleich mit Nazi-Deutschland zu setzen?
"Derartige Spekulationen sind leicht zu unternehmen, ermöglichen sie es Historikern doch, die Geschichte ihren politischen Zielen und ihren Vorurteilen in der Gegenwart entsprechend umzuschreiben, ohne ihre Argumente anhand konkreter, überprüfbarer Nachweise belegen zu müssen. [...] Das Wunschdenken ist in der Welt der kontrafaktischen Geschichte allgegenwärtig."
Ein alptraumhaftes Schaudern
Wer endlich einmal erfahren möchte, wie es wirklich gewesen wäre, wenn Hitler bereits 1930 bei einem Autounfall ums Leben gekommen wäre, wird enttäuscht. Evans will das Phänomen "Kontrafaktische Geschichte" viel grundsätzlicher ergründen. Lesenswert sind deshalb gerade auch die Teile des Buches, in denen er sich etwa mit dem Wandel der unterschiedlichen Zukunftsvisionen beschäftigt, die in historischen Darstellungen, aber auch in Romanen oder in Krimis beschrieben werden.
In Jorge Semprúns 1981 veröffentlichtem Roman "Algarabía" kommt der französische Staatspräsident de Gaulle bei einem Hubschrauberunglück ums Leben und Paris versinkt im Bürgerkriegschaos verfeindeter linker Gruppen – eine Geschichte, die mit dem Erbe von 1968 spielt und doch eine ganz eigene fiktionale Welt schafft.
Das wohl beliebteste Thema der kontrafaktischen Erzähler ist und bleibt jedoch der Nationalsozialismus: Was, wenn Hitler den Krieg gewonnen und Europa unterworfen hätte?
Die Mehrzahl solcher Geschichten stammt aus der Feder angloamerikanischer Autoren. Evans argumentiert nicht ohne Grund, dass es für die Sieger des Zweiten Weltkrieges einigen Nervenkitzel bedeutet, darüber nachzudenken, was ein deutscher Sieg für sie bedeutet hätte – ein alptraumhaftes Schaudern.
Künftig genauer hinzuschauen
Damit spielt auch Randolph Robbans satirischer Roman "Wenn Deutschland gesiegt hätte" aus dem Jahr 1950. In dieser Geschichte werfen die Deutschen die erste Atombombe auf London und Chicago. Sie beenden gemeinsam mit Japan den Krieg, stellen die Alliierten als Kriegsverbrecher vor Gericht, besetzen die Sowjetunion und zerstreiten sich schließlich mit ihren faschistischen Partnern in Fernost so sehr, dass sie sich gegenseitig in einem Atomkrieg auslöschen.
Evans führt viele solcher Beispiele an und empfiehlt mit Nachdruck, künftig genauer hinzuschauen, wenn die Fantasie die Macht übernimmt. Er will uns nicht die Lust am Nachdenken verbieten. Aber, so Evans:
"All das macht deutlich, auf welch dünnem empirischen Eis sich kontrafaktische Spekulationen häufig, vielleicht sogar in der Regel bewegen: Zu oft ist ihr Ausgangspunkt allzu unvorsichtig gewählt, zu häufig versäumen sie es, zwischen unterschiedlichen Ebenen zu differenzieren. Nicht selten versuchen sie sich an enorm komplexen historischen Themen und durchschlagen in ihren Interpretationen den gordischen Knoten, indem sie die Macht des einzelnen Akteurs betonen, den Lauf der Dinge zu verändern. Darüber hinaus ist jedes kontrafaktische Szenario an eine bestimmte historische Interpretation gebunden."
Deshalb hatte schon Walther Rathenau im Jahr 1918 und im Rückblick auf den Ersten Weltkrieg festgehalten:
"Die Geschichte konjugiert nicht im Konditionalis, sie redet von dem, was ist und war, nicht von dem, was wäre und gewesen wäre."
Wie Recht er hatte.

Richard J. Evans
Veränderte Vergangenheiten
Über kontrafaktisches Erzählen in der Geschichte
DVA Sachbuch
224 Seiten, 19,99 Euro (als Ebook 15,99 Euro)