Was sind Granaten schon gegen innere Qualen?

13.11.2006
Auf der Flucht vor sich selbst ist der Lehrer und Schriftsteller Stanislav Bernstein, Ich-Erzähler der "Kinder von Patras". Der 44-Jährige weist alle Symptome einer Midlife-Crisis auf. Vor allem seine Ehe scheint außer Rand und Band. Dies inszeniert der Autor derart skurril, dass man bei allem Elend nicht aus dem Lachen herauskommt.
Der Mensch hat das Rad erfunden, um so schnell wie möglich vor sich selbst weglaufen zu können, aber dann hat ihn die Geschichte eingeholt. Mit dieser aphoristischen Erkenntnis leitet der kroatische Erzähler Zoran Ferić, den man seit einigen Jahren auch in Deutschland kennt, seinen neuen Roman ein. Dann fügt Ferić hinzu: Einige von uns haben neben der allgemeinen noch ihre eigene schreckliche Geschichte, vor der sie ihr ganzes Leben davonlaufen.

Auf der Flucht vor sich selbst ist in diesem Fall der Zagreber Gymnasiallehrer und Schriftsteller Stanislav Bernstein, Ich-Erzähler der "Kinder von Patras", die im Folio Verlag erschienen sind. Stanislav, 44, und - wie es heißt - genau 11 Jahre älter als Jesus Christus war, als er gekreuzigt wurde, weist alle Symptome einer Midlife-Crisis auf.

Vor allem die Ehe mit der Verlagsangestellten Ines scheint außer Rand und Band. Von Eifersucht geplagt stellt Stanislav ihr nach und ergibt sich zugleich allen nur erdenklichen Fluchtphantasien. Mal nähert er sich Marina, einer an Multipler Sklerose erkrankten Schülerin, die ihm das Manuskript ihres Pferderomans zur Begutachtung vorlegt. Mal holt er sich eine per Zeitungsannonce ermittelte Blondine ins Haus, die ihn für Geld befriedigen soll. Obendrein hegt er eine vertrackte Beziehung zu Marta, der an den Rollstuhl gefesselten Tochter seines Nachbarn, die er in freien Stunden auf seinem Motorrad durch die Stadt kutschiert.

Unentwegt grübelt dieser Erzähler dabei über sein friedfertiges, fast idyllisches und dennoch von Katastrophen umhülltes Leben nach. Während er die Geschichte seiner Ehe und seiner eigenen Familie rekapituliert, scheinen die Jugoslawienkriege der frühen neunziger Jahre auf. Bei Zoran Ferić werden Krieg und anderes äußeres Unglück indes ohne Pathos und ohne Sentimentalität abgehandelt. Sie wirken vielmehr wie die Kulisse für die wahren Tragödien des Lebens, die sich in Kopf und Seele abspielen.

Was sind Granaten gegen die Qualen, denen sich ein Studienrat durch seine womöglich pädophilen Neigungen aussetzt? Diese Verteilung der Gewichte, die mit klassischer Innerlichkeit wenig zu tun hat, gibt Ferićs Prosa ihre eigentümliche Prägung und steckt voller unwägbarer Ironie. Die morbide Selbstbeschauung inszeniert der Zagreber Autor sogar derart skurril, dass man bei allem Elend nicht aus dem Lachen herauskommt.

Zoran Ferić wurde 1962 in Zagreb geboren und ist dort als Kroatischlehrer an einem Gymnasium tätig. In deutscher Übersetzung erschien zuletzt das "Mädchen mit den Schwefelhölzern." Wie schon dort hat der Autor auch in den "Kindern von Patras" einen ebenso trostlosen wie komischen Kosmos erschaffen, der den Leser nicht mehr loslässt, sobald er sich nur auf ihn eingelassen hat.


Rezensiert von Martin Sander


Zoran Ferić: Die Kinder von Patras
Übersetzt von Klaus Detlef Olof.
Folio Verlag, Wien, Bozen 2006, 171 Seiten, 19,50 Euro