"Was man muss, ist eigenständig denken"

Moderation: Jürgen König · 17.07.2007
Die Psychoanalytikerin Margarete Mitscherlich wurde zusammen mit ihrem Mann Alexander berühmt durch ihr Buch "Die Unfähigkeit zu trauern", worin sie die Verdrängung der Nazi-Zeit in den 50er Jahren analysierten. Im Deutschlandradio Kultur erklärte Mitscherlich, eine der Lehren aus der NS-Diktatur sei, dass man die Pflicht zum selbstständigen Denken habe und Verantwortung für sich und seine Zeit übernehmen muss.
Marie Sagenschneider: Geboren und aufgewachsen ist Margarete Mitscherlich in Dänemark, aber schon als Schülerin kommt sie nach Deutschland und wird, wie sie es selbst einmal formuliert hat, Zeugin eines Wahns, der sie für immer prägen wird, des Nationalsozialismus' nämlich. Wie nach dem Krieg eine ganze Gesellschaft ihre Schuld und Verbrechen verdrängt, das hat sie gemeinsam mit ihrem Mann Alexander Mitscherlich analysiert in dem bahnbrechenden Buch "Die Unfähigkeit zu trauern".

Margarete und Alexander Mitscherlich, das war eine lebenslange Liebes- und Arbeitsbeziehung zweier Psychoanalytiker, die unter ganz schwierigen Umständen begann, denn als sie ihr erstes Kind bekamen, da war Alexander Mitscherlich noch mit einer anderen Frau verheiratet - ein Skandal in den fünfziger Jahren!

In den siebziger Jahren hat sich Margarete Mitscherlich dann der Frauenbewegung zugewandt, über die weibliche Psyche geschrieben, zum Beispiel in "Die friedfertige Frau" und "Die Zukunft ist weiblich".

Und auch ihr ist es zu verdanken, dass sich diese Republik verändert hat. Margarete Mitscherlichs Bilanz fällt so aus: Aus dem faschistischen Deutschland sei eine stabile Demokratie geworden, eine einstmals männerdominierte Gesellschaft habe immerhin eine Kanzlerin an die Spitze gewählt und die Grundbegriffe der Psychoanalyse kenne inzwischen jeder Taxifahrer.

Heute wird Margarete Mitscherlich 90 Jahre alt, wir gratulieren herzlich und lassen sie nun selbst zu Wort kommen in einem Gespräch, das mein Kollege Jürgen König im April mit ihr geführt hat, als gerade der Interviewband "Eine unbeugsame Frau" erschienen war. Und Jürgen König hat Margarete Mitscherlich gefragt, wie sie jetzt, 40 Jahre nach Veröffentlichung von "Die Unfähigkeit zu trauern", die mittlerweile doch so facettenreiche Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus hierzulande empfindet.

Margarete Mitscherlich: Nun, das gehört zu den Dingen in meinem Leben, die mich wirklich sehr glücklich machen, ja, und sehr zufrieden machen. Das, dass man das gelernt hat, dass man die Vergangenheit aufarbeiten muss und sie sehen muss wie sie war, um auch zu verstehen, wie man selber oft mit in größte Unmenschlichkeiten gerutscht ist, also, zumindest sich nicht genügend dagegen gewehrt hat, damit - das ist auch schon 100.000 mal gesagt worden, aber, ich glaube, man kann es nicht genügend sagen - es sich nicht wiederholt. Und das gehört wirklich der allgemeinen Meinung in Deutschland an. Ich denke, auch die Jugend ist sich darüber im Klaren, es war eine schreckliche Zeit, sie ist bereit, der Geschichte ins Auge zu sehen und sie, wann immer möglich, noch genauer zu erforschen, um so mit ihr umzugehen, dass wir niemals wieder in diese Irre laufen können, wie wir es seinerzeit getan haben.

König: Ja. Ein anderes Kapitel düsterer deutscher Geschichte, das wir gerade aufarbeiten, ist die Mordserie der RAF in den 70er Jahren. Wie empfinden Sie diese RAF-Debatte?

Mitscherlich: Na ja, die Debatte, ich muss ganz ehrlich sagen, ich verfolge sie nicht genau genug. Aber ich hab natürlich mit der RAF und ihr Entstehen und ihr Abgleiten in die Kriminalität und auch in die Unmenschlichkeit, in diese göttergleiche Vorstellung, sie können ein Urteil darüber abgeben, wer umgebracht werden soll und wer nicht. Das hab ich miterlebt und wirklich als unbewusste, fast als unbewusste Wiederholung bestimmter Verhaltensweisen sehen müssen, wie sie in der Nazi-Zeit Gang und Gebe waren. Das war schon ein großer Schock, dass Menschen, die eigentlich genau das Gegenteil wollten, dann sich doch wie der liebe Gott aufspielten, also der böse liebe Gott, wenn man so will, der glaubt, über Tod und Leben entscheiden zu können, weil er oder sie die Gerechtigkeit gepachtet hat.

König: Kommen wir mal zurück zu ihrem Buch. Das Leben, von dem sie darin erzählen, ist ein reiches Leben, reich an Erfahrungen, guten wie schlechten, reich an Begegnungen mit interessanten, faszinierenden Menschen, reich an großen Momenten. Ihr Mann Alexander Mitscherlich steht dabei im Mittelpunkt, wie Sie ihn kennenlernten, ihn, der damals verheiratet war und fünf Kinder hatte. Sie erzählen, wie Sie selber ein Kind von ihm bekamen, dieses Kind verheimlichten, es sogar während Ihrer Promotion in die Obhut Ihrer Mutter nach Dänemark gaben oder geben mussten, bis es dann schließlich Jahre später doch zu einem offiziellen Zusammenleben und schließlich zur Eheschließung kam. Und diese Ehe, Frau Mitscherlich, ich hatte den Eindruck, das muss ein unglaublich enges Zusammenleben, das ja auch noch ein Zusammenarbeiten war, gewesen sein. Wurde es Ihnen niemals zu eng?

Mitscherlich: Mein Mann war ... es war sehr angenehm in vielem, mit ihm verheiratet zu sein, weil er einem auch Freiheiten ließ. Weder er noch ich sind geneigt zu allzu großer Enge.

König: Aber trotzdem noch mal gefragt: Wie haben Sie das geschafft, die Liebe so zu pflegen, wenn ich das so sagen darf?

Mitscherlich: Das ist eine Sache zwischen zweien, dass beide doch kapieren, was der andere braucht und oft ganz instinktiv versteht, oft, ohne es aussprechen zu müssen. Auch mit einer gewissen Distance. Vor allem sollte man, glaube ich, wenn man sehr eng zusammenlebt, sich davor hüten, alle Gedanken und alle Fantasien, die man hat, dem anderen mitzuteilen. Es gibt ja quasi Menschen, die das als Zwang ansehen. Du musst aufrichtig sein und es ist eine Art von ... mein Analytiker hat mich immer vorm Bekenntniszwang gewarnt. Es ist eine Art davon, dass Ehrlichkeit etwas damit zu tun hätte, dass man dem anderen alles und jedes sagt, auch wenn es ihn nur belastet und beschwert und eigentlich gar nichts angeht.

König: Sie sprechen ja in Ihrem Buch sehr offen über sich, über Ihr äußeres, auch über Ihr inneres Leben, über Schuldgefühle, Eifersucht und Treue, über Fantasien und Triebe. Haben Sie den Eindruck, dass sich in den letzten Jahrzehnten grundlegend etwas verändert hat oder ist der Mensch in seinem Widerspruch, wie Wilhelm Busch ihn so schön beschrieben hat, im Kern eben doch der gleiche geblieben?

Mitscherlich: Na, die Schwierigkeiten in den mitmenschlichen Beziehungen ändern sich äußerlich mit Sicherheit. Früher konnte man sich nicht scheiden lassen, das war eine Schande ohnegleichen. Heute ist es eine Kleinigkeit. 50 Prozent aller Ehen, wie man hört, werden geschieden. Also, das ist kein Problem mehr. Man kann zusammenleben, ohne verheiratet zu sein. Zu meiner Zeit konnten Alexander und ich nicht zusammenziehen, weil wir nicht verheiratet waren. Also, wir hatten zwar eine gemeinsame Wohnung, aber ich war dazu gemeldet.

König: Sie haben so viel über Frauen und Männer geschrieben. Ich nehme an, die derzeitige Debatte über die Rückkehr der Frau an den Herd, über Krippenplätze ja oder nein, das alles finden Sie ziemlich schrecklich?

Mitscherlich: Na ja, wissen Sie, Deutschland war nun leider Gottes eine rückständige Demokratie und ein rückständiges Land. Als Frankreich und England noch viel früher eine Demokratie wurden oder eine parlamentarische Monarchie, also vom Volke doch bestimmte Monarchie, war in Deutschland noch nichts dergleichen zu sehen. Und als nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg mal ein paar Jahre Demokratie geworden, dann war es wieder die Diktatur, da war es nie Gang und Gebe, dass Frauen, die verheiratet waren, auch berufstätig waren. Das war in Dänemark, in dem ich geboren bin, schon bei meinen Großeltern Sitte und in Frankreich genauso und in England. Und deswegen war es eine Selbstverständlichkeit, dass es Krippen und Ganztagsschulen gab.

Aber bedenken Sie auch etwas vorher: Der Adel hat sich um seine Kinder nie gekümmert, der hat sie immer Ammen überlassen. Das heißt, die arme Bevölkerung, die musste sich um die Kinder der Reichen kümmern, konnte sich auch nicht um die eigenen kümmern.

Diese Vorstellung, dass ein Kind nur glücklich werden kann, wenn es mit einer besitzergreifenden Mutter von morgens bis abends zusammen ist, das ist ja auch eine wirkliche Vorstellung, die einem das kalte Grausen macht, wenn man bei Christiansen, sagen wir mal, diese rechthaberischen Mütter sieht, die sagen "unsere Kinder müssen nur bei uns sein", dann kann man die armen Kinder nur bedauern.

König: Es heißt im Vorwort dieses Buches, dass Sie immer den Dingen auf den Grund gehen wollten. Haben Sie jetzt, Frau Mitscherlich, mit 89 Jahren das Gefühl, wirklich, wie soll ich sagen, Erkenntnis gewonnen zu haben über sich selbst, über das Leben, über Gott, über das Lieben, über das Sterben?

Mitscherlich: Über das Sterben kann man überhaupt nichts gewinnen, weil man das nie erlebt hat. Die Tiere nehmen das wie selbstverständlich hin und da der Mensch, wenn ich das so sagen darf, ja auch dazugehört, zu diesen Lebewesen, ...

König: Zu den Tieren?

Mitscherlich: Ja, natürlich sind wir Tiere. Das ist doch klar.

König: Aber sehr hoch entwickelte.

Mitscherlich: Ja, mit Denken. Natürlich, deswegen beherrschen wir ja auch die gesamte übrige Tierwelt. Nein, die Erkenntnisse gewinnt man ja immer weiter, die gewinnt man in seiner Umgebung, in seinem Leben, man hat ja vieles erlebt. Man weiß ja nun mit Sicherheit, dass man gewiss nicht [unverständllich] als Gott gleichfühlenden Menschen wie den Diktator Hitler noch einmal bestimmen lassen würde. Der hat uns ja genau gesagt, was wir zu denken und zu glauben hatten, was der Sinn unseres Lebens sei. Wenn irgendjemand uns klargemacht hat, dass das die falsche Lebensweise ist, dann die Zeit, die zwölf Jahre Hitler. Was man muss, ist das eigenständige Denken, Verantwortung übernehmen, erwachsen werden, wenn man will, und nicht immer von anderen den Sinn des Lebens verlangen, sondern wissen, dass man, dass jeder als Erwachsener Verantwortung für sich, sein Land, seine Zeit hat.

König: Ihr Buch "Die friedfertige Frau" hab ich noch mal angelesen und da gleich den ersten Satz mir angestrichen: "Männer haben Kriege vorbereitet, angezettelt und ausgeführt, haben gegnerische Heere vernichtet, haben Gefangene gemacht". So geht es dann immer weiter mit der Aufzählung männlicher Verbrechen. Im jetzigen Buch "Eine unbeugsame Frau", da wirken Sie wesentlich gelassener. Stimmt der Eindruck? Hat das Alter Sie milder gestimmt?

Mitscherlich: Na ja, man hat ja, ich bin mehr so wie im jetzigen Buch. Vielleicht war ich es damals schon, aber wenn man irgendeine Sache vorantreiben will, muss man sie auf die Spitze treiben. Das erleben wir immer wieder. Wenn die Frauen allzu milde von Anfang an sind und so viel Verständnis für denjenigen, dann erreichen wir gar nichts. Also, im Kampf selber muss man hier und da die Dinge auf die Spitze treiben, das habe ich in der "friedfertigen Frau" sehr viel mehr getan. Dieser Kampf ist ja weitgehend gewonnen, würde ich denken, wenn er auch irgendwie nie ganz gewonnen werden kann. Die Frauen, die jungen Frauen, die heute leben, wissen nur nicht, wie viel besser es ihnen geht, als es noch unserer Generation ging.

König: Sie sagen der Kampf der Frauenemanzipation sei weitgehend gewonnen worden. Könnte das nicht ein Pyrrhussieg sein, in dem Sinne, dass die Männer dabei zeitgleich völlig die Orientierung verloren haben, wer sie sind und wo sie stehen?

Mitscherlich: Ja, aber verdammt noch mal, so wie wir für uns alle selber verantwortlich sein müssen, ist es mir egal, wenn die Männer das Gefühl haben, sie sind nicht mehr für sich verantwortlich. Dafür bin ich nicht verantwortlich.