Was ich Dir noch sagen wollte (2)

"Jetzt bin ich Dein Spiegel, Papa"

Passanten auf einer Straße und ihre langen Schatten
Manche Menschen werfen einen langen Schatten: "Ich hab' mich nicht selber so gemacht, ich bin auch so geworden." © Tom Barrett / Unsplash
Von Christiane · 25.11.2017
Ihr Vater behandelte sie oft jähzornig und gewalttätig − in den Arm nehmen konnte er seine Tochter nicht. Als er alt war, ließ sie ihn umgekehrt ihre Wut und Ungeduld spüren: "Den Jähzorn hast du in mich eingepflanzt."
Mensch Papa, wenn du wüsstest, was ich dafür geben würde, wenn wir uns noch mal sprechen könnten. Ich denk' mir manchmal, wie viele Gelegenheiten hatte ich, anders mit dir zu sprechen, als ich gesprochen habe − und ich hab' sie alle nicht genutzt. Das geht mir jetzt so nach, obwohl du schon so viele Jahre tot bist. Immer wieder, immer wieder kommt's mir in den Sinn, was ich versäumt habe. Ich hab' versäumt, obwohl wir doch jahrelang zusammen waren, ich mich so um dein Wohlsein gekümmert habe … und trotzdem war ich so ungut zu dir. Ich hab' mich zwar immer mal wieder entschuldigt bei dir dafür, dass ich so ungehalten war, dass ich so ungeduldig war mit dir − du als alter Mensch, ich als deine junge Tochter.

Aus unserer Serie "Was ich Dir noch sagen wollte". Hier alle Folgen im Überblick

Wie oft hätte ich mich bei dir entschuldigen können, hätte dir erklären können, warum ich immer wieder so jähzornig mit dir war. Ich hab' einerseits gemerkt, dass dein Jähzorn, den ich als Kind erlebt hab', von Kindesbeinen an erlebt hab', dass der jetzt auch in mir ist, dass ich genauso jähzornig bin wie du, dass ich dein Spiegel sozusagen bin. Also das, was ich gerade nicht sein wollte. Das hat mich eigentlich wieder wütender gemacht, dass ich ja genauso geworden bin wie du und dir vielleicht auch noch die Schuld gegeben habe. Das hast du in mich eingepflanzt. Jetzt bin ich auch nicht besser als du.

Ich habe dir das Leben auch schwer gemacht

Aber trotzdem, du warst inzwischen ein alter Mann und ich war eine junge, vitale Frau, deine Tochter, und ich hätte es jetzt besser machen können. Das würde ich dir so gerne sagen, Abbitte leisten dafür, dass ich dir das Leben in deinen letzten Lebensjahren nicht nur schöner gemacht habʼ, dadurch, dass ich mich um dich gekümmert habe, dass ich da war für dich von morgens bis abends, bis zum nächsten Morgen, sondern dass ich genau weiß: Ich hab' dir das Leben in den letzten Jahren auch schwer gemacht. Und das tut mir sehr, sehr, sehr leid.
So leid eben, dass mir immer wieder die Gedanken dahin gehen, wie gern ich dich in den Arm nehmen würde, was ich höchstens zwei, drei Mal in diesen Jahren gemacht habʼ. Um dir zu sagen: Papa, ich habe es nicht besser geschafft. Ich habʼ natürlich 'ne gute Ausrede. Ich habe die Ausrede, du hast mich verprügelt. Du hast in der Familie mit Gebrüll gewirkt − regiert. Aber diese Ausrede zählt ja nicht für uns Junge, denn wir können's ja besser machen. Und dass du mich in den Arm nimmst, das weiß ich ja, dass du das gar nicht konntest. Du bist die andere Generation gewesen, die das nie gelernt hat.

Ich wollte deine gute Tochter sein

Natürlich kommen mir dann auch manchmal so Gedanken wie: Ich hab' mich nicht selber so gemacht, ich bin auch so geworden. Und wenn ich mich erinnere, dass ich ja einmal auch zu dir gesagt hab, dass du mich halt als Kind auch ordentlich verdroschen hast. Aber das war auch nur wieder so 'ne Situation, wo ich explodiert bin, weil du mir doch tatsächlich dann geantwortet hast: "Ich? Ich hab' dich doch nie geschlagen." Und da bin ich ja wieder ausgerastet und hab' gesagt: "Was? Ich weiß es noch wie gestern. Ich hab' in die Hose gepisst vor Angst, als du mich geschlagen hast."
Aber dich hat es gar nicht erreicht, du hast mich nur groß angeschaut. Kein Wort dazu, dass du mich immer mal wieder mit unserer sogenannten Hundepeitsche verprügelt hast oder mit deinen Fäusten. Aber du hast es vergessen. Du hast es vergessen. Ich hab' es nicht vergessen − und trotzdem wollte ich deine gute Tochter sein.

"Ich bin nicht tot, ich tausche nur die Räume, ich leb' in euch und geh' durch eure Träume" (Michelangelo)

In dieser Serie sprechen Menschen zu Verstorbenen. Zu ihren Eltern, Geschwistern, Kindern oder Freunden. Sie sagen ihnen die Dinge, die sie ihnen zu Lebzeiten nicht sagen konnten − aus den verschiedensten Gründen.

Die Autorin Margot Litten sprach zunächst Menschen auf Friedhöfen an. Doch schon bald meldeten sich die ersten Hörer, die selbst sehr bewegende Geschichten zu erzählen hatten. Es sind zu einem großen Teil ihre Botschaften, die in dieser Serie zu hören sind.

Hilfsangebote zur Suizidprophylaxe und bundesweite Beratungsmöglichkeiten finden Sie hier

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