Was ich Dir noch sagen wollte (11)

"Meine Sehnsucht, von Dir angenommen zu werden"

Ein Junge sitzt allein auf einer Bank
Der Mutter wurden die kindlichen Bedürfnisse zu viel: "Für mich war es furchtbar, dass du zu mir als kleiner Bub sagtest, ich sei hässlich und dumm." © Michal Parzuchowski / Unsplash
Von Charly · 03.02.2018
Oft hat er versucht, ihr zu sagen, dass ihm die mütterliche Liebe fehlte. "Schwätz net so blöd", sagte sie dann. Erst mit den Jahren konnte er besser begreifen, warum sie ihm diese Liebe nicht geben konnte.
Ach, Mama. An Weihnachten und an Neujahr habe ich dich jedes Jahr angerufen. Das war dir wichtig. Und jetzt bist du nicht mehr da. Zum ersten Mal. Seltsam, ich vermisse dich. Und das, obwohl es nicht einfach zwischen uns war.
Weißt du noch, wie du dich geärgert hast, dass ich nicht mehr "Mama" zu dir sagen konnte? Du warst irritiert. Konntest überhaupt nicht verstehen. Nie wolltest du wissen, warum. Du warst verletzt und irgendwann hast du dich daran gewöhnt. Hast du dich wirklich daran gewöhnt? Ich musste eine Distanz zwischen uns legen, damit ich es mit mir aushielt. Ein Leben lang habe ich mich nach deiner Liebe gesehnt. Ich konnte erst mit den Jahren besser begreifen, warum du sie mir nicht geben konntest. Aber weh tat es immer.

Ich holte mir ein wenig heile Kindheit

Als unsere Töchter klein waren, habe ich mir ein wenig heile Kindheit geholt. Wir gingen ins Kino und guckten uns alle Astrid-Lindgren-Filme an. Immer rollten mir die Tränen dabei. Das ist bis heute so, wenn ich sehe, dass Eltern nett zu ihren Kindern sind. Ach, so gerne hätte ich dir davon erzählt. Von meiner Sehnsucht, von dir angenommen zu werden. So wie ich bin. Ganz ohne Vorwürfe. Wenn du mir nur einmal zugehört hättest. Warum hast du eigentlich nie gefragt, warum ich "Margot" zu dir sage?

Aus unserer Serie "Was ich Dir noch sagen wollte". Hier alle Folgen im Überblick

Stattdessen hast du immer davon geredet, wie anders ich wäre. Anders als andere Kinder. Schon die Lehrerinnen und Lehrer hätten sich immer über mich geärgert. Über meine Faulheit, meinen Blödsinn oder wie du sagtest: Meinen Quatsch im Kopf. Weißt du, ich hätte dir so gern erzählt, dass das Quatsch-machen meine Rettung war. So eine Art Überlebensstrategie.
Nun bist du tot und wir haben den Zeitpunkt verpasst. Danach hättest du doch weiter erzählen können von den Nachbarn, den Verwandten, von deinen Krankheiten. Ich hätte dir so wie immer zugehört. Mal gern, mal weniger gern. Ach Mama, das fehlt mir jetzt. Dann hätte ich vielleicht meinen letzten Protest gegen meine Kindheit abgelegt. Wäre versöhnt mit dir und mit mir.

Nie hattest du Zeit für dich

Weißt du, ich hab' dir längst verziehen, dass du mich mit irgendwelchen Gegenständen geschlagen hast, wenn dir meine kindlichen Bedürfnisse zu viel wurden. Du hattest es wirklich nicht leicht. Fünf Kinder in einer kleinen Wohnung. 42 Stunden im Schichtdienst am Band einer Tubenfabrik, und nach oder vor der Arbeit wartete die Hausarbeit. Nie hattest du Zeit für dich. Und dazu kam: Das Geld war immer knapp. Dennoch: Wir hatten immer genug zum Anziehen und täglich hast du für uns frisch gekocht. Ich hab' da großen Respekt, wie du das alles hingekriegt hast.
Als ich mich bei dir dafür bedankt habe, dass du uns so gut versorgt hast, warst du gerührt! Ich weiß das noch sehr genau. Später habe ich häufig versucht, dir zu sagen, dass mir die mütterliche Liebe fehlte. "Schwätz net so blöd", sagtest du dann. Und wenn ich mal nicht locker ließ, hast du geweint. Kannst du dich erinnern?

Ich möchte nicht nachtragend sein

Für mich war es furchtbar, dass du zu mir als kleiner Bub sagtest, ich sei hässlich und dumm. Darunter hab ich viel mehr gelitten als unter den Schlägen. Schlimm waren vor allem die ersten Jahre, als ich von zuhause wegzog. So ganz ohne Selbstbewusstsein auf der Suche nach dem eigenen Leben. Ich war ungefähr 21, als ich meine erste Liebe kennenlernte. Meine damalige Freundin sagte mir immer wieder, dass sie mich schön findet und mich liebt. Ich konnte das nicht aushalten und habe versucht, ihr das auszureden. Nach fünf Jahren zerbrach unsere Liebe − auch daran.
Ich möchte nicht nachtragend sein. Weißt du, ich hätte einfach nur gern von dir gehört: "So hab' ich das nicht gemeint" oder "Oh, Gott, das hab' ich zu dir gesagt?" Das wollte ich dir nur kurz sagen. Vielleicht hörst du ja mit.
Ach, Mama, manchmal ist das Leben halt so, wie es ist.

"Ich bin nicht tot, ich tausche nur die Räume, ich leb' in euch und geh' durch eure Träume" (Michelangelo)

In dieser Serie sprechen Menschen zu Verstorbenen. Zu ihren Eltern, Geschwistern, Kindern oder Freunden. Sie sagen ihnen die Dinge, die sie ihnen zu Lebzeiten nicht sagen konnten − aus den verschiedensten Gründen.

Die Autorin Margot Litten sprach zunächst Menschen auf Friedhöfen an. Doch schon bald meldeten sich die ersten Hörer, die selbst sehr bewegende Geschichten zu erzählen hatten. Es sind zu einem großen Teil ihre Botschaften, die in dieser Serie zu hören sind.

Hilfsangebote zur Suizidprophylaxe und bundesweite Beratungsmöglichkeiten finden Sie hier