Was die Moral in der Literatur verloren hat

Schriftsteller mit weißer Weste?

29:35 Minuten
Ein Mann mit Augenbinde balanciert auf einem Drahtseil mit einem Bleistift zwischen verworrenen Linien. (Illustration)
Gute Autoren sind nicht zwangsläufig auch gute Menschen - das ist eine Erkenntnis, die sich jede Generation aufs Neue erarbeitet. © imago / Nick Diggory
Von Sieglinde Geisel · 18.06.2021
Audio herunterladen
Auch schlechte Menschen können gute Bücher schreiben, meint der amerikanische Essayist William H. Gass. Muss man also Autor und Buch trennen? Jede Generation stellt die Frage nach Moral in der Literatur aufs Neue.
"Wer ein guter Dichter ist, der ist auch zugleich ein guter Mensch", sagt der Geschichtsschreiber Strabo aus dem alten Griechenland. Und von Paul Celan stammt der Satz: "Nur wahre Hände schreiben wahre Gedichte."
Müssen Autoren gute Menschen sein? Nein, meint der amerikanische Essayist William H. Gass: "Es sind schon gute Bücher von schlechten Menschen geschrieben worden." Denn Schriftsteller haben auch ein Privatleben, einen Charakter und politische Meinungen. Was ist, wenn ihre Hände und Köpfe Dinge tun, die wir verabscheuen?

Man zieht den Hut und knirscht mit den Zähnen

Der Schweizer Literaturwissenschaftler Peter von Matt nimmt diese Tatsache in Kauf: "Man zieht den Hut und knirscht mit den Zähnen." Und der Literaturnobelpreisträger 2019 Peter Handke sagt: "Ein Schriftsteller sollte ein guter Mensch sein. Das gelingt nicht immer, leider."
Der im letzten Jahr verstorbene Kulturphilosoph George Steiner bedauert zutiefst, dass gute Autoren nicht zwangsläufig auch gute Menschen sind:
"Da rühren Sie einen ganz neuralgischen Punkt in meinem ganzen Leben an. Werke von überwältigender Größe und Wichtigkeit können von Schweinen und Sadisten geschaffen werden. Ich bedaure. Das ist jenseits alles Guten und Bösen."
Portrait of George Steiner
Gute Autoren sind nicht zwangsläufig gute Menschen, findet Kulturphilosoph George Steiner.© Leonardo Cendamo/Leemage/imago images
Peter von Matt wiederum trennt die kreative Tätigkeit von der Person:
"Der kreative Zustand ist eine Extremverfassung des Menschen, wie der Zustand der höchsten Verliebtheit, das sind immer Grenzsituationen, und nachher sind sie fertig, dann sind sie erschöpft. Da werden sie dann entweder sauglatt oder unerträglich."
Der bosnische Autor Dževad Karahasan ist einfach realistisch, wenn er sagt:
"Es wäre eine total kitschige Vorstellung, dass die Welt von guten Menschen und von bösen Menschen bevölkert wird. Nee, das stimmt nicht, jeder von uns ist gut und böse zugleich. Ich will gar nicht mich selber total kennenlernen. Ich will gar nicht wissen, wie ich in bestimmten Situationen handeln würde."

Der Fall Peter Handke

Autoren, die nicht halten, was wir uns moralisch von ihnen versprechen – das ist der Stoff der großen Literaturdebatten über Ästhetik und Ethik. Jede Zeit produziert ihre eigenen Sündenfälle, je nach dem politischen Umfeld.
Die Verleihung des Nobelpreises im Dezember 2019 an Peter Handke und sein Verhältnis zu Serbien lieferte eine weitere Debatte dazu. Saša Stanišić nutzte damals seine eigene Rede zum Deutschen Buchpreis dazu, Handke anzugreifen: "Ich tu’s auch deswegen, weil ich das Glück hatte, dem zu entkommen, was Peter Handke in seinen Texten nicht beschreibt."
Stanišić bezichtigte Peter Handke der Lüge. Seither diskutiert die Literaturwelt wieder darüber, ob man Autor und Werk trennen könne. Eine Neuauflage der Debatte, die bereits 1996 geführt wurde, als Handkes Reisebericht "Winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina" erschienen war, in dem er, so der Untertitel, "Gerechtigkeit für Serbien" forderte.
"Handkes Text ist eine ganz private Schwätzerei, in der es nichts gibt, außer dem sprechenden Subjekt." Das schrieb damals der bosnische Autor Dževad Karahasan in der "Zeit". Als die Debatte wieder aufflammte, schwieg er und begründet das so:
"Ich habe mich nicht gemeldet, weil ich vermutet habe, dass sich die aktuelle Diskussion viel mehr mit der Politik beschäftigen wird als mit der Literatur. Meine Probleme mit Handke sind rein literarischer Natur."
Dzevad Karahasan vor einem Eingang beim Literaturfest Salzburg.
Dzevad Karahasan bei der Eröffnung des Literaturfests Salzburg.© imago stock&people / Manfred Siebinger
Dževad Karahasan geht es um die Art und Weise von Handkes Schreiben. "Diese Willkür, diese Verallgemeinerungen, dieses Uninteressiertsein am Text, das ist mein Problem mit Handke." Für Karahasan besteht Handkes literarische Verfehlung darin, dass er nicht richtig hingeschaut habe:
"Die Aufgabe der Kunst ist es, die Welt frei zu sehen. Herr Handke beschreibt nur seine Vorstellungen."

Hauptwerk? Oder Verrat an der Literatur?

Der Literaturwissenschaftler Jürgen Brokoff sieht den eigentlichen Sündenfall von Handke auch weniger im Politischen als auf dem Feld des Literarischen:
"Das Interessante bei den Jugoslawien- und Serbien-Texten von Peter Handke ist, dass die Massaker von Višegrad leugnenden, infragestellenden Passagen nicht gewissermaßen politischer Klartext sind."

Der Bosniake Vahidin Preljević ist Germanistikprofessor an der Universität Sarajevo und findet, dass Handke die Literatur verraten habe:
"Er hat sich hinter der Literatur versteckt. Wenn er zum Beispiel mit seinen Reiseberichten in literarischer Form die Wahrheiten oder Tatsachen, die von Journalisten, von Experten, von Juristen, von Historikern festgestellt wurden, in Frage stellt, und dabei sagt: "Ich mache das im Namen der Literatur" – dann ist das für mich ein ungeheuerlicher Missbrauch der Literatur und eben auch ein Verrat an der Literatur."
Die dänische Autorin Madame Nielsen sieht in den Serbientexten Peter Handkes Hauptwerk, und zwar gerade deswegen, weil sie uns irritieren:
"Ich glaube, dass er seit seinem Anfang bei der Gruppe 47 so einen Peter-Handke-Mythos und einen Peter-Handke-Kult aufgebaut hat. Dort fühlte er sich sicher, und seine Lesergemeinde fühlte sich auch sicher, und alles war gut. Aber dort draußen hat er alle schockiert. Und alle mussten irgendwie ihr Handke-Bild umschreiben und umdenken."
Die Performerin, Schauspielerin und Autorin Madame Nielsen bei der Aufzeichnung der WDR-Talkshow "Kölner Treff"
Die Performerin, Schauspielerin und Autorin Madame Nielsen© Geisler-Fotopress

Die biografische Falle

"Das ist ein ganz hoch interessantes und gar nicht so geklärtes Phänomen", meint Peter von Matt:
"Man liest ein Buch, es gefällt einem, man liebt es, und jetzt will man die Autorin oder den Autor kennen: Was ist das für einer? Und dann kommt die nächste Frage: Hat er das, was er da beschreibt, selbst erlebt? Das ist ein nicht zu verhindernder Vorgang, aber es ist eigentlich ein schwerer Fehler."
Denn ein solcher Zugang, "die biographische Falle", habe etwas Voyeuristisches und verhindere den Zugang zum Werk, findet von Matt. Der Autor oder die Autorin sei im Prozess des Schaffens sowieso in einem besonderen Zustand. Wenn dieser endet:
"Dann ist er halt wieder der ganz gewöhnliche Herr Soundso oder die Frau Soundso, und dann ist er in sehr vielen Fällen unerträglich. Also er ist dann einfach ein Mensch wie alle anderen. Aber das ist nicht der, der diese Bücher schreibt."

Kinder ihrer Zeit

Louis-Ferdinand Céline, Ezra Pound, Gottfried Benn, Ernst Jünger. An diesen Namen kommt man nicht vorbei, wenn von schlechten Menschen die Rede ist, denen wir gute Bücher verdanken. Peter von Matt hält sich mit Urteilen zurück:
"Niemand von uns kann sagen, wie er gehandelt hätte, wenn er 1937 als 25-Jähriger in Deutschland gelebt hätte." Von den Schriftstellern aber erwarten wir, dass sie über dem Zeitgeist stehen. Wir hätten sie gern als Lichtgestalten. "Das ist die Säkularisierung der traditionellen Heiligenverehrung. Das ist der Kitsch in uns."
Doch die Frage nach des Schriftstellers weißer Weste scheint ohnehin müßig. "Aufgabe der Literatur ist es, mit dem Leser zusammen in ein Spiel einzutreten,"meint Peter von Matt.
"Vom Spiel her kommen Sie viel weiter als von philosophischen Großbegriffen wie Gut und Böse."
(dw)
Wiederholung einer Sendung vom 21. Februar 2020

Sprecher: Frank Arnold, Wolfgang Condrus und die Autorin
Regie: Klaus-Michael Klingsporn
Ton: Andreas Stoffels
Redaktion: Dorothea Westphal

Mehr zum Thema