Warum wir historische Katastrophen oft nicht erkennen

Das Morgen ist uns verhängt

Laiendarsteller erinnern in einem Historienspektakel an die Eroberung der Festung Königstein durch schwedische Truppen im Jahr 1639.
Laiendarsteller erinnern in einem Historienspektakel an die Eroberung der Festung Königstein durch schwedische Truppen im Jahr 1639. © picture alliance / dpa / Sebastian Kahnert
Von Alexander Kissler · 02.01.2018
Hinterher hätte man es natürlich schon vorher wissen können, ja müssen. Aber man hat es eben nicht kommen sehen. Vom 2. Januar aus blickten Menschen schon häufiger frohgemut in Jahre, die sich dann zu historischen Katastrophenjahren entwickeln sollten, meint der Kulturjournalist Alexander Kissler.
Am 2. Januar 1618 wurde der Maler, Architekt und spätere Ratsherr Martin Faber in die Emder Malergilde aufgenommen – ein großer Tag für den "Caravaggio Ostfrieslands". Ganz Sohn seiner Heimatstadt, malte Martin Faber große Historiengemälde für Emden, die "Einsegnung der Diakone", die "Auferweckung des Lazarus".

Alles schien in bester Ordnung

Ebenfalls im Januar des Jahres 1618 besuchte Superintendent Johann Babius die Pfarrei Balgstädt, 500 Kilometer südöstlich von Emden, im Saale-Unstrut-Gebiet. Magister Babius traf dort – so überliefern es die Chroniken – auf einen vorbildlichen Pfarrer, Zitat: "der Augustinischen Konfession von Herzen zugetan und tüchtig in der Lehre. (...) Das Leben des Pfarrers stimmt mit seiner Lehre überein und ist zu loben." Es waren gute Tage zu Beginn des Jahres 1618 für Martin Faber und Emden, für Magister Babius und den Pfarrer von Balgstädt.
Alles schien in bester Ordnung – nur wir Heutigen setzen mit dem Wissen der Spätgeborenen hinzu: 1618 war doch das Jahr, als Europas Urkatastrophe begann, der Dreißigjährige Krieg.
Doch konnte jemand, der 1618 wie jedes Jahr hoffnungsfroh anfing, damit rechnen, dass im Mai ein Prager Fenstersturz stattfinden und dass dieser Sturz grauenhafte Folgen haben würde? Nein, natürlich nicht. Meister sind wir, wenn es gut läuft, der Vergangenheit, und manchmal wissen wir selbst diese nicht zu deuten. Kaffeesatz und Glaskugel, Orakel und Eingeweideschau bleiben Spielereien, die den dichten Vorhang vor jeder Zukunft färben, niemals aber ihn lüften. Das Morgen ist uns verhängt.

Hätte man es wissen können?

Golo Mann lässt seine Geschichte des Dreißigjährigen Krieges mit einem hellen Fanfarenstoß beginnen: "Von Europa zu reden, wäre man zu Beginn des 17. Jahrhunderts wohl berechtigt gewesen; denn man verstand in London, was in Madrid, was in Prag oder in Stockholm vorging, und hatte Ursache, es wissen zu wollen, nach wie verschiedenem Rhythmus auch das Leben in all den Ländern und Hauptstädten pulsierte. Die Unterschiede wirkten auf einem Boden von Gemeinsamkeiten." Golo Mann schildert dann einen bestialischen Krieg, den von den europäischen Gemeinsamkeiten nur die europäische Grausamkeit überlebte. Hätte man es wissen können?
Oder hätte man am 2. Januar 1918, als die Schwarzmarktpreise im Deutschen Reich aufgrund der Friedensverhandlungen von Brest-Litowsk einen Tiefststand erreichten – ein gutes Zeichen also –, damit rechnen können, dass am Ende des Jahres das Habsburger Reich zusammenbrechen und Karl I. ebenso wie Wilhelm II. abdanken würde? Dass die Monarchie an ihr Ende komme? Noch im März 1918 standen deutsche Truppen kurz vor Paris.

Jedes Jahr kann ein Jahr des Heils sein

In beiden Wendejahren gab es Anzeichen, Tendenzen, lagen Veränderungen in der Luft. Wie steht es heute um die Welt und um ihr Morgen, wiederum an einem 2. Januar? In christlichen Chroniken steht hinter Jahreszahlen das Kürzel A.D. – Anno Domini – im Jahr des Herrn. Jedes Jahr, ist damit gemeint, kann ein Jahr des Heils sein, insofern die Menschheit der Vollendung entgegen schreite, dem neuen Himmel und der neuen Erde.
Theodor W. Adorno formulierte die Gegenthese: Die "vollends aufgeklärte Erde" strahle im Zeichen "triumphalen Unheils".
Wachsen also mag das Wissen, nicht aber unsere Klugheit. Zwischen diesen Polen sucht der Mensch seinen Weg. Da sind Zeichen an der Wand, Tendenzen in den Lüften; man muss blind sein, um sie nicht zu sehen. Welche Wirklichkeit daraus aber folgt, liegt an uns, an jedem neuen Tag. Die Zukunft ist offen. Menschlich werden wir gehandelt haben, wenn sie es bleibt.

Alexander Kissler, geboren 1969, ist Kulturjournalist und Sachbuchautor. Er schrieb regelmäßig für die "Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung", war Redakteur der "Süddeutschen Zeitung" und anschließend beim "Focus Magazin". Seit Januar 2013 leitet er das Kulturressort "Salon" des Monatsmagazins "Cicero". Jüngstes Buch: "Keine Toleranz den Intoleranten. Warum der Westen seine Werte verteidigen muss." (Gütersloher Verlagshaus 2015)

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