Warschau

1000 Jahre jüdisches Leben

Der Innenbereich des Museums der Geschichte der polnischen Juden in Warschau.
Der Innenbereich des Museums der Geschichte der polnischen Juden in Warschau. © dpa / picture alliance / Rafal Guz
Von Martin Sander · 28.10.2014
Die Ausstellung zu einem Jahrtausend jüdischer Geschichte im Warschauer "Polin"-Museum soll vor allem die lange verdrängte, oft fruchtbare gemeinsame Geschichte von Polen und Juden deutlich machen. Dafür wurde sogar eine ganze Straße nachgebaut.
Der Neubau des Museums der Geschichte der polnischen Juden gilt als architektonische Glanzleistung. Seinen hell durchleuchteten Quader hat der Finne Rainer Mahlamäki auf das kantige, düster wirkende Denkmal für die Helden des Ghettos gegenüber bezogen, jenes Denkmal, vor dem 1970 Willy Brandt kniete. Mit anderen Worten: Hier wird der Toten gedacht, dort der Lebenden, der Akteure einer 1000 Jahre währenden Geschichte. Das Foyer des Museums hat nichts Starres. Die welligen Betonwände bilden eine Schlucht, die den Weg freigibt, aber auch Schwindelgefühl auslösen kann.
Ein Manko hat der seit eineinhalb Jahren bereits mit Theater, Musik und Sonderausstellungen bespielte Bau. Der Kassenbereich ist viel zu klein geraten. Regelmäßig bilden sich Besucherschlangen im Freien.
"80 Prozent der Besucher sind Warschauer. Insgesamt sind das 400.000 Besucher in einem Museum, das gerade mal ein Jahr alt ist und noch keine Dauerausstellung hat."
Dorota Keller-Zalewska, die stellvertretende Direktorin des Museum. Mit der heute eröffneten Dauerausstellung löst man den Anspruch ein, der das seit rund zwei Jahrzehnten geplante Vorhaben prägte: Man will kein Museum des Holocaust sein, sondern zeigen, wie das Leben der Juden Polen als Gesellschaft geprägt hat. Man will zehn Jahrhunderte einer Beziehungsgeschichte zwischen jüdischen und nichtjüdischen Polen ins Bild setzen. Museumsdirektor Dariusz Stola:
"Man kann die Geschichte Polens ohne die Geschichte der Juden wirklich nicht verstehen. Sogar in der schlimmsten Zeit, als die Juden durch die Ghettomauern vom Rest der Warschauer Bevölkerung getrennt wurden, kamen 80 Prozent der Lebensmittel ins Ghetto illegal durch polnisch-jüdische Schmugglergangs. Also auch in dieser Zeit größter Isolation können wir die Geschichte von Juden und Polen nicht getrennt verstehen."
Geordnet in acht Galerien auf mehreren Ebenen ist das jüdische Leben von der Ankunft erster Juden in Polen noch vor der ersten Jahrtausendwende bis heute zu betrachten. 'Paradisus Judaeorum' lautet der Titel von Galerie 3. Zu besichtigen ist eine der Epochen, in dem sich jüdisches Leben in Polen besonders gut entfalten konnte, das 16. und frühe 17. Jahrhundert.
Dorota Keller-Zalewska: "Natürlich war das nicht nur ein Paradies. 'Paradisus Judaeorum', also Paradies der Juden, damit möchten wir unterstreichen, dass es einen großen Aufwuchs der jüdischen Kultur hier gab, aber gleichzeitig gab es hier auch ganz viele Konflikte. Die katholische Kirche hat natürlich die Juden nicht unterstützt, ganz im Gegenteil."
Wände, Böden und Decken der 4000 Quadratmeter Ausstellungsfläche sind mit Bildern, Bildschirmen, Dokumenten, Installationen, Originaltönen, rekonstruierten Möbeln dicht bestückt − bis hin zur original nachgebauten Holzsynagoge. Der Besucher kann in das bunt inszenierte Geschehen regelrecht eintauchen. Wer Galerie 6 anschaut, läuft durch eine ganze gepflasterte jüdische Straße. Sie zeigt, natürlich in symbolischer Verdichtung, noch einmal ein blühendes jüdisches Leben mit vielen Facetten zwischen Assimilation und religiöser Tradition – Theater, Presse, ein Künstlercafé. Vor dem Zweiten Weltkrieg stellten Juden mit 350.000 mehr als ein Drittel der Bevölkerung von Warschau. Warschau war die größte jüdische Stadt in Europa.
Die jüdische Straße biegt ab und wird unversehens zum dunklen Korridor aus rostigen Eisenteilen, der die Ghetto-Wirklichkeit dokumentiert, den Holocaust.
In der letzten Galerie wird das schwierige Leben der Überlebenden im kommunistischen Polen beleuchtet. Unterdrückung von Religion und Tradition, Antisemitismus, auch und gerade in der Partei, der in die Vertreibung vieler Tausend Juden nach 1968 mündete. Heute, 25 Jahre nach der Wende, sei das polnisch-jüdische Verhältnis aufgearbeitet, sagt Museumsdirektor Dariusz Stola:
"Wir haben öffentlich über die schwierigsten Seiten dieser Geschichte debattiert, über die Kriegs- und unmittelbare Nachkriegszeit, zum Beispiel über das Pogrom von Kielce 1946. Das waren die größten Historikerdebatten in Polen überhaupt. Und: Das ist etwas ganz Außerordentliches. Nirgendwo sonst hat es derart emotional geführte, intensive Diskussionen gegeben – obwohl auch in vielen anderen Ländern Anlass dazu bestanden hätte."
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