Warlords, Taliban und ein schwacher Präsident

Von Marc Thörner · 27.01.2010
Warlords, die eifersüchtig über ihre Gebiete wachen und sie nach Art von Despoten beherrschen. Persönliche Fehden und unbeglichene Rechnungen, die in blutigen Auseinandersetzungen münden können, Konflikte zwischen Clans oder Volksgruppen, die zu Mord und Vertreibungen führen und verschwimmende Fronten: Das ist die Welt, die Bundeswehrsoldaten oder Polizeikräfte im Norden Afghanistans bei ihrem Einsatz vorfinden. Eine Welt, die ihnen wenig vertraut ist, was die Suche nach angemessenen einheimischen Partnern schwierig macht. Marc Thörner nach seiner Reise durch den Norden Afghanistan über die verworrene Gemengelage des Gebietes, in dem deutsche Bundeswehrsoldaten für Sicherheit sorgen sollen.
Äußerlich unterscheidet sich der Mann nicht von vielen Passanten in Kabul: Anfang oder Mitte 50, Paschtunenkappe, ein langes, locker über einer Pluderhose getragenes Hemd, gedrungene Figur, graumelierter Bart.

Am Checkpoint vor dem Innenministerium steigt er ins Auto, setzt sich neben den Fahrer und fängt sofort an zu sprechen.

"Im Augenblick sind 700 Taliban- und Al Kaida- Kämpfer aus Nuristan unterwegs nach Nordafghanistan. Sie bewegen sich auf zwei unterschiedlichen Routen ins Tal hinab. Eine führt aus Poshal über die Badakshan-Provinz nach Kundus. "

Seinen Namen möchte der Mann nicht nennen. Er bestätigt aber, dass er zur Al Kaida-Gruppe in Afghanistan gehört. Zum Beweis gibt er, sorgfältig dosiert, etwas von seinem Wissen preis: etwas, sagt er, das die Deutschen besonders interessieren müsse.

"Auf einem zweiten Weg gelangen Taliban von Pakistan in die afghanische Südprovinz Helmand, bewegen sich nach Norden Richtung nach Faryab und dort weiter nach Sar-e Pol."

Ferngesteuert würden sie von Taliban-Chef Mullah Omar im pakistanischen Quetta.

Die Al Kaida-Zentrale; das Al Kaida-Netzwerk in Afghanistan, harte und gemäßigte Taliban: Solche Einteilungen westlicher Sicherheitsexperten wischt der al Kaida-Mann beiseite. Zwischen Taliban und Al Kaida in Afghanistan, meint er, seien die Übergänge fließend. In beiden Organisationen kämpften die wenigsten für eine Religion oder besondere Ideologie. Stattdessen gehe es um Interessen, um Land, um Haben und Nichthaben.

"Vor zwei Wochen ist Mullah Abdelsamak zu mir nach Hause gekommen, er ist einer der Kommandeure der Taliban im Norden. Er hat zu mir gesagt: 'In unseren Dörfern hat sich ein Kommandeur des usbekischen Warlords General Dostum eingenistet. Dieser Mann hat unsere Häuser zerstört und uns unsere Grundstücke weggenommen. Danach haben wir aus Vertriebenen eine Truppe von 250 Kämpfern gebildet. Wir kämpfen ausschließlich gegen General Dostum, nicht gegen die afghanische Regierung."

Wer etwas über die Motive der Aufständischen im Norden Afghanistans erfahren will, muss die großen Städte verlassen und sich auf den beschwerlichen Weg in die Dörfer begeben. Lehmhäuser und kleine, ausgedörrte Felder prägen die Landschaft zwischen Mazar- e Sharif und Sar- e Pol. Immer wieder ziehen karawanenartige Kolonnen von Kamelen vorbei, an langen Leinen von Eselreitern geführt. Längs der Straße haben Kutschi-Nomaden ihre Zelte aufgebaut und weiden ihre Schafe auf der kargen Steppe.

Während die Paschtunen in Afghanistan insgesamt die Mehrheit stellen, wohnen hier in Nordafghanistan hauptsächlich Tadschiken und Usbeken. Die Paschtunen sind in der Minderheit und leben in ihren Dörfern wie in Enklaven. Immer wieder sind sie im Laufe der Geschichte mit der Mehrheit in Konflikt geraten. In der letzten Zeit besonders deshalb, weil Tadschiken und Usbeken sie oft mit den - ebenfalls paschtunischen - Taliban gleichsetzen.

Am Straßenrand taucht auf einem Hügel eine rätselhafte Silhouette auf. Beim Näherkommen zeigen sich frisch verputzte Lehmmauern mit Zinnen. Türme scheinen für Geschütze vorgesehen. Mit ihren rechtwinklig vorspringenden Eckbefestigungen ähneln sie einer Befestigung aus dem 17. oder 18. Jahrhundert. Heute hält die afghanische Nationalarmee den Posten besetzt. Harun, unser afghanischer Begleiter, stoppt den Wagen, und steigt aus, um etwas zu erklären.

"Dies Fort heißt Kalai Janghi. Es war eine wichtige Militärbasis im Krieg gegen die Taliban, 2001. Ein großer Kampf fand hier statt. Auf der einen Seite standen die Taliban, auf der anderen die Nordallianz und die US-Truppen."

Im Oktober 2001 unterstützten US-Spezialkräfte die mit den Taliban verfeindeten Truppen General Dostums und leiteten vom Boden aus die Luftschläge der B 52-Bomber ins Ziel. Derart gestärkt, schlug Dostum die paschtunischen Taliban in die Flucht. 7000 Taliban nahm er gefangen. Viele von ihnen wurden in dieser Festung interniert. Als die Gefangenen eine Revolte wagten, ließ Dostum sie blutig niederschlagen. Etwa 2000 Überlebende ließ er umbringen und in Massengräber versenken.

Gut anderthalb Fahrtstunden hinter der Festung liegt Sar- e Pol, Hauptort der Nachbarprovinz von Balkh. Alles hier steht unter dem Einfluss des Usbekenwarlords Dostum. Eine Abzweigung führt über holprige Sandpisten zu einem Dorf. Hier haben sich ein paar Vertreter des paschtunischen Stammes der Ishaqzai versammelt. Ihr Sprecher, Assadullah Ishaqzai:

"Etwa 10.000 paschtunische Familien sind seit 2001 von hier geflohen, in Richtung Pakistan oder Iran. Mehr als 5000 dieser Familien sind gewaltsam von ihrem Land vertrieben worden. Wenn Sie von Sar- e Pol über Shiberghan zurück nach Mazar-e Sharif fahren, kommen Sie an all dem Land vorbei, das unsere Angehörigen verlassen mussten."

Er und die Stammesältesten um ihn herum, sagt Ishaqzai, gehörten zu den letzten Angehörigen der paschtunischen Minderheit, die in der Gegend noch ausharren. Sie fühlten sich wie Freiwild, auf Gedeih und Verderb den Übergriffen der Usbekenmilizionäre ausgeliefert.

"Der Name dieses Dostum-Kommandeurs ist Kamal. Es gibt es keinen Staat in unserer Gegend. Der Polizeichef ist ein Verwandter von Kommandeur Kamal. Der Gouverneur gehört zur Jamiat-Partei, zu der auch Gouverneur Atta in der Balkh-Provinz gehört."

In Mazar-e Sharif, dem Ort, in dessen Nahe die Bundeswehr ihr Camp aufgeschlagen hat, häufen sich unter der Minderheit die Klagen über Gouverneur Mohammed Atta Nur. Abaceen Nasimi vom Institute for War and Peace Reporting, einer internationalen Nachrichtenagentur mit Sitz in London und Kabul:

"Es gab eine Menge Morde. Stammesführer und einflussreiche Persönlichkeiten wurden umgebracht. Nach den uns vorliegenden Berichten und den Beobachtungen lokaler Mitarbeiter steckt Gouverneur Atta hinter dieser Intrige gegen die paschtunische Bevölkerung. Das Ganze ist eine hochsensible Sache, weil Attas Geheimdienst in und um Mazar-e Sharif allgegenwärtig ist und weil er in der gesamten Bevölkerung eine Atmosphäre der Angst erzeugt. Niemand kann wagen, öffentlich etwas über diese Vorfälle zu sagen."

Ein paschtunischer Stammesältester wirft Gouverneur Atta Auftragsmorde vor.

"Mit Nasir Shah, einem der Getöteten, war ich noch 15 Minuten vor seinem Tod zusammen. Ausgeführt wurden einige der Morde durch die lokale Polizei und den Inlandsgeheimdienst NDS. Als eine paschtunische Schuldirektorin entführt werden sollte, rief sie die Bevölkerung ihres Dorfs zur Hilfe, und der Angreifer konnte überwältigt werden. Die Dorfbewohner fanden einen Geheimdienstausweis bei dem Mann. Als man den Mörder zur Lokalverwaltung brachte, sagte der zum Verwaltungschef: Hier ist die Telefonnummer des Gouverneurs, ruf ihn mal an. Das tat der Beamte. Danach ordnete er unverzüglich an, den Mörder freizulassen. Ein anderes der Opfer heißt Ali Khan. Seine Mörder wurden von Dorfbewohnern verfolgt und dabei fanden sie die Kleidung der Täter, es waren Polizeiuniformen."

Die gleichen Polizeiuniformen, wie sie diejenigen Beamten tragen, die in Mazar-e Sharif von der Bundeswehr und der Bundespolizei im Schießen und in der Verfolgung von Verdächtigen ausgebildet werden.

Oberstleutnant Weckbach: "In Sicherheitsfragen gibt es natürlich Berührungspunkte mit der Provinzregierung."

... bestätigt Oberstleutnant Weckbach, Sprecher des deutschen Kommandeurs in Mazar-e Sharif....

"Es gibt regelmäßige Sicherheitskoordinierungsbesprechungen, an denen eben alle afghanischen Sicherheitskräfte beteiligt sind, seien es Afghan National Police, Afghan National Army, der NDS und natürlich auch die Provinzregierung. Unsere Militärpolizei bilden zusammen mit der deutschen Polizei, also der Eupol Polizisten aus."

Könnte es also sein, dass Bundeswehr und Bundespolizei zwar auf den ersten Blick afghanische Polizisten ausbilden, tatsächlich aber die Truppe des Provinzgouverneurs? Der Oberstleutnant ist sich da ganz sicher:

Oberstleutnant Weckbach: "Nein. Die Polizei untersteht dem Innenministerium (lacht). In Kabul."

Deutsche Bundespolizisten, die unweit des Bundeswehrlagers afghanische Polizisten ausbilden, sehen die Dinge etwas differenzierter. Es gebe Anhaltspunkte, dass ganze Kontingente der ehemaligen Nordallianz-Mudschaheddin gezielt in die neuen Sicherheitskräfte eingeschleust würden. Unter ihnen auch Milizionäre Gouverneur Attas und General Dostums.

Gouverneur Atta hat sich erfolgreich widersetzt, als die Kabuler Zentralregierung neue Polizeichefs einsetzen wollte.

Wenn, wie von Bundeswehr behauptet, die Polizei dem Innenministerium untersteht – wieso kann Nord-Gouverneur Atta sich dann den Weisungen des Innenministeriums widersetzen? Bundeswehrsprecher Oberstleutnant Weckbach hat darauf eine verblüffende Antwort.

"Sie sehen doch, dass er kann." (lacht)

Heißt das: Bundeswehr und Bundespolizei bilden doch nicht die Sicherheitskräfte der Zentralregierung aus, sondern die Sicherheitskräfte des Gouverneurs?

Oberstleutnant Weckbach: "... Ich (lange Pause) Ich kann Ihnen nicht sagen, wie weit er das kontrolliert, weil ich's definitiv nicht weiß. Er hat natürlich 'n gewissen Einfluss und wir haben auch erlebt, dass er sich den Anordnungen aus Kabul erfolgreich widersetzt hat und diese drei Polizeichefs, die hätten abgelöst werden sollen, dass er das auch verhindert hat. Die Bundeswehr bildet Polizei aus. Unter wessen Einfluss die hier stehen – das kann wechseln."

Ist es möglich, dass die von deutschen Beamten ausgebildeten Polizisten Menschenrechtsverletzungen begehen?

Oberstleutnant Weckbach: "Kann ich Ihnen nicht sagen, weil ich in die Details überhaupt nicht eingewiesen bin, ich weiß es nicht."

Anderthalb Stunden lang mit dem Auto kreuz und quer durch Kabul. Immer detaillierter schildert der Al Kaida-Mann die ethnischen Konflikte, die Machtstrukturen der Warlords Atta und Dostum. Verhandlungen seien möglich, meint er. Die Bedingung dafür sei klar. Viele Paschtunen hätten sich dem Aufstand angeschlossen, weil die Warlords Dostum und Atta ihnen Grundstücke und Häuser weggenommen hätten. Bedingung für den Frieden sei, dass die Bestohlenen ihre Habe zurückerhielten. Das müsse die deutsche Regierung garantieren.

"Wenn die Bundeswehr oder die deutsche Regierung Informationen über die Al Kaida in jeder Provinz haben möchten, ist das möglich. Aber unter einer Voraussetzung: Ich brauche die besagten Garantien. Vielleicht kann ich die Angriffe in Kundus, Samarghan, Baghlan und der Balkh-Provinz nicht um 100 Prozent zurückfahren, wahrscheinlich aber um 50 Prozent."

Aussteigerprogramme für Taliban, die aus wirtschaftlichen Gründen kämpfen. Ein Fond, um ihren finanziellen Interessen Rechnung zu tragen – neue Konzepte, die im Vorfeld der Londoner Afghanistan-Konferenz bekannt wurden. Marc Lindemann, bis zum Frühjahr 2009 Nachrichtenoffizier in Nordafghanistan, hat soeben eine Analyse der Lage aus militärischer Sicht veröffentlicht. Darin plädiert er für den entgegengesetzten Weg: Mehr Zusammenarbeit mit den tadschikischen und usbekischen Warlords im Norden.

Eine besonders wichtige Aufgabe, so Nachrichtenoffizier Lindemann, könnte der Usbekengeneral Dostum übernehmen:

"Nach unseren moralischen Vorstellungen müssten wir den Mann eigentlich vor ein Gericht bringen. Dazu wird es aber nicht kommen. Sein Vorteil ist, dass er kein religiöser Fanatiker ist."

Genau diese Denkweise ist es, die den Aufstand geschürt hat, meint hingegen Abaceen Nasimi vom Institute for War and Peace Reporting.

"Wenn die Militärs zu Beginn des Afghanistan-Feldzugs mit den Warlords zusammengearbeitet haben – schön und gut. Sie waren die einzige lokale Macht gegen die Taliban. Seitdem sind acht Jahre vergangen und unglaublich viele Chancen wurden vertan. Im Augenblick ist Afghanistan unter der Kontrolle einer Handvoll Warlords. Mohammed Atta im Norden. Isamel Khan im Westen. Ahmed Wali, den Bruder Karzais, im Süden. Nicht zu vergessen Dostum im Norden. Der einzige Grund ist: Die Militärs können mithilfe der Lokalherrscher die Lage leichter kontrollieren. Aber geht es darum, jemanden zu unterstützen, solange er für uns die Lage kontrolliert? Ist das Ziel des Afghanistan-Einsatzes? Wenn Sie Saddam Hussein aus dem Grab holten und ihm den Job in Mazar-e Sharif übertrügen, würde er die Lage auch sehr gut kontrollieren."