Wann ist ein Staat ein Staat?

Von Alexander Kohlmann · 20.04.2013
Jura Soyfer wurde nur 26 Jahre alt. Als Kind jüdischer Eltern kam er aus Russland nach Wien, wo er Kabarett spielte und politische Theaterstücke schrieb. Im KZ Dachau starb er 1939 an Typhus. Jürgen Kuttner hat am Schauspiel Hannover Soyfers Stück "Astoria" als Vorlage für eine Politoperette genutzt.
Schilder fahren auf und ab, "Staat", "Gemeinschaft", "Arbeitslosigkeit", "Steuern" und andere Schlagwörter leuchten, handschriftlich geschrieben auf den Tafeln, die durch eine komplexe Steuerung der Bühnenmaschinerie vor unseren Augen zu flimmern beginnen, wie in einem alten schwarz-weiß-Film. Einen Ausflug in das epische Theater der zwanziger und dreißiger Jahre gönnt uns das niemals unpolitische Schauspiel Hannover und zeigt am Beispiel des im KZ jung verstorbenen Autors Jura Soyfers, dass die brennenden Debatten aus der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts immer noch bedrückend aktuell sind.

"Astoria" ist ein Text, den Soyfers eigentlich fürs Cabaret geschrieben hat, einen Ort der Unterhaltung mit politischer Hintertür, damals jedenfalls. Die Geschichte um den Verrat von Utopien erinnert nicht nur an Brechts "Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny", auch andere dramatische Utopien bis hin zu Moritz Rinkes "Republik Vineta" aus der jüngeren Vergangenheit kommen ins Gedächtnis. Zwei Obdachlose lagern vorm pink ausgeleuchteten eisernen Vorhang, unterhalten sich über die angebliche Ungerechtigkeit der Hartz-IV-Gesetze, die nicht einmal vorm Angriff auf das Existenzminimum zurückschreckten.

Eine klassenkämpferische Attitüde, die schnell vergessen ist, als die sexy Gräfin Gwendolyn Buckelburg-Marasquino den Obdachlosen Hupka als ersten Bürger eines noch zu gründenden Staates Astoria einkauft. Astoria, das ist fortan das Glücksversprechen eines fürsorgenden Staates mit ganz niedrigen Steuern, für die Armen ein Sehnsuchtsort, für die Reichen, die da "oben ganz schön einsam sind" ein ideales Gebilde: Astoria erinnert fatal an die Steueroasen, die über 100.000 Unternehmen auf wenigen Quadratkilometern vereinen und auch virtuelle Staaten ohne Fläche sind.

Jürgen Kuttner inszeniert erstmals ohne Tom Kühnel und das bekommt dem Abend sehr gut. Die Arbeit mit Greenscreen-Projektionen, die Schauspieler in ihren Träumen ins virtuelle Astoria fliegen lassen, steht ganz im Dienste der Dramaturgie. Die Mittel sind überbordend aber niemals Selbstzweck.

Und unterhaltsam bleibt der Ausflug, auch wenn Kuttner und seine Crew hier vor demselben Dilemma stehen wie schon Brecht mit seiner "Dreigroschenoper": Die Astoria-Nationalhymnen von "Ein Staat, ein guter Staat" bis "Ein bisschen Staat muss sein" geraten zu Gassen-Hits im Publikum, alleine, ob das kritische Potenzial sich hier nicht in einem heimlichen Wohlfühl-Liederabend auflöst, (Frank Wittenbrink lässt grüßen) bleibt durchaus fraglich. Wie auch in anderen, ähnlich gestrickten Abenden am immer wieder den Aufstand probenden Schauspielhaus Hannover.


Mehr Infos im Web: Schauspiel Hannover: Ein Staat, ein guter Staat