Wanderausstellung zu Radiokunst

    "Kaum jemand weiß, was Radiokunst ist"

    Installationsansicht "Radiophonic Spaces" im Museum Tinguely, Basel. Menschen stehen in einem Ausstellungsraum und haben Kopfhörer auf
    Installationsansicht "Radiophonic Spaces" im Museum Tinguely, Basel © Museum Tinguely / Daniel Spehr
    Nathalie Singer im Gespräch mit Tania Palamkote · 01.11.2018
    In Basel, Berlin und Weimar gibt es jetzt eine Ausstellung zu Radiokunst: die Radiophonic Spaces. Die künstlerische Leiterin Nathalie Singer im Gespräch darüber, wie der Sound in den Raum kommt und was Radiokunst überhaupt ist.
    Deutschlandfunk Kultur: Die Wanderausstellung "Radiophonic Spaces" in Basel, Berlin und Weimar "zeigt" Soundexponate, die in Archiven verschwunden sind. Die Radiostücke wurden multimedial aufbereitet, außerdem sind Skripte, Partituren, persönliche Aufzeichnungen und Fotografien aus den Studios der Künstler zu sehen. Wie und wann kamen Sie auf die Idee, Radiokunst in eine Ausstellung zu bringen?
    Nathalie Singer: Das fing schon ganz früh an, 2011, als wir an der Bauhaus-Universität Weimar gemeinsam mit Deutschlandradio Kultur und Phonurgia Nova die virtuelle Ausstellung sonosphere.org in die Welt gesetzt haben - das Archiv der Klangkunst. Seitdem möchten wir Klangkunst und vor allem Radiokunst ins Museum bringen. Dann wurde ich Teil des interdisziplinären Forschungsprojekt "Radiophonic Cultures". Wir haben das EXPA-Archiv mit 9000 Werken der Radiokunst aufgebaut, das aber nur für Lehre und Forschung - und nicht für die Öffentlichkeit - zugängig ist. Die Teilhabe an diesem Forschungsprojekt war dann der zündende Funke, Radiokunst und unsere jahrelange Arbeit endlich in eine Ausstellung zu bringen.
    Installationsansicht "Radiophonic Spaces" im Museum Tinguely, Basel. Eine Frau sitzt in einem Sessel, hat einen Kopfhörer auf und schaut auf ihr Smartphone. Im Hintergrund geht eine Frau, ebenfalls einen Kopfhörer auf und schaut auf ihr Smartphon
    Installationsansicht "Radiophonic Spaces" im Museum Tinguely, Basel© Museum Tinguely / Daniel Spehr
    Deutschlandfunk Kultur: Als Besucher bewegt man sich durch die Ausstellung mit Kopfhörern und einem Smartphone und empfängt Werke aus unterschiedlichen Jahrzehnten, von verschiedensten Komponisten, Künstlern usw. Wie kamen Sie auf diese Idee?
    Singer: Unsere Frage war: Wie kann man ein Klang-Archiv in einen öffentlichen, ganz realen Raum bringen? Wie kann man das Archiv räumlich durchwandern? Wie kann man Klänge zum Beispiel algorithmisch nach Ähnlichkeiten sortieren, so wie in der Bildwelt? Wir wollten immersive Klangräume bilden, wir wollten mit neuen Technologien arbeiten, um individuelle Parcours und Hörräume zu ermöglichen. Dafür ist die Kopfhörer-Technologie einfach ideal: Der Besucher kann ganz individuell in die Klangwelt eintauchen.
    Deutschlandfunk Kultur: Bei der Ausstellungseröffnung im Tinguely Museum in Basel haben Sie gesagt, der Besucher sei eine "Fleisch gewordene Sendersuchnadel in einem großen Radioapparat".
    Singer: Ja, weil man normalerweise am Knöpfchen, am Sender, dreht, bis man bei einer Stimme oder einer Musik oder einem Programm hängen bleibt. Und bei uns ist es eine Art lebendes menschliches Interface im Raum, was wir da konstruiert haben. Die Besucher empfangen Soundschnipsel der Radiostücke und entscheiden durch individuelle Bewegungen, wo sie stehen bleiben und weiterhören.
    Deutschlandfunk Kultur: In der Ausstellung kann sich die Sendersuchnadel sogar durch verschiedene Zeiten bewegen und Stücke aus 100 Jahren empfangen. Warum ist die Geschichte der Radiokunst so wichtig?
    Singer: Mir ist wichtig, dass Radiokunst überhaupt als Gattung, Genre oder als Kunstform mehr ins Bewusstsein tritt. Die meisten Menschen auf der Welt - auch in europäischen Kulturkreisen, im Kunstkontext - wissen überhaupt noch nicht, was das ist, die Radiokunst. Das erste Ziel ist es, Radiokunst jetzt überhaupt ins kollektive Bewusstsein zu bringen. Daher auch diese sehr aufwändige und sehr große Form. Sonst hätte man auch nur paar Stücke nehmen können.
    Deutschlandfunk Kultur: Was versteht man denn unter dem Begriff Radiokunst?
    Singer: Seitdem es das Medium Radio gibt, haben sich Künstler damit beschäftigt: Literaten, Lautpoeten, Komponisten, Cinéasten, Reporter und Theatermacher bis hin zu Bildenden Künstlern. Sie haben das Medium und die radiophone Kunst beeinflusst, Stücke für das Medium komponiert, Installationen geschaffen, das Medium als Übertragunsmedium eingesetzt und entfremdet - und dieses ganze Spektrum betrachten wir.
    Deutschlandfunk Kultur: Und dieses Spektrum betrachten Sie in der Forschungsgruppe "Radiophonic Cultures"?
    Singer: Radiophonic Cultures hat die Radiophonie in seiner historischen Entwicklung erforscht und dabei die verschiedenen Etappen der technologischen Entwicklung von Rundfunkstationen beleuchtet: von den Anfänge des Radios in der Zeit, in der noch alles live gesendet wurde, über die Platte, die Bandmaschine, bis heute, in die Zeit der Digitalisierung. Wir fragen uns: Wie hat Studiotechnnologie über die verschiedenen Jahrzehnte die Ästhetik beeinflusst? Was bedeutet Digitalisierung für die Zukunft des Radios?
    Deutschlandfunk Kultur: Ist die Ausstellung nur für Fachleute?
    Singer: Nein, sicher nicht. Die Ausstellung gibt einen Einblick in 100 Jahre Radiokunst, in mehr als 200 Stücke der Radiokunst. Sie soll gerade einem breiten Publikum die Möglichkeit geben, diese Schätze zu hören. "Radiophonic Spaces" richtet sich daher an Menschen unterschiedlicher Generationen und Herkünfte. Das Wissen aus der Radioforschung ist aber natürlich mit in die Ausstellung eingeflossen.
    Installationsansicht "Radiophonic Spaces" im Museum Tinguely, Basel. Eine Frau steht im Profil in einem Ausstellungsraum, trägt eine Brille, hat einen Kopfhörer auf und schaut auf ihr Smartphone
    Installationsansicht "Radiophonic Spaces" im Museum Tinguely, Basel© Museum Tinguely / Daniel Spehr
    Deutschlandfunk Kultur: Was meinen Sie, wie erlebt ein Besucher, der zum ersten Mal von "Radiokunst" hört, die Ausstellung?
    Singer: Das werden wir sehen (lacht). Wir haben versucht, einen Zugang auf zwei Ebenen zu ermöglichen: Leute, die vorher noch nie mit Radiokunst zu tun hatten, können Radiokunst jetzt sinnlich und spielerisch erfahren. Sie können Kunstwerke hören, komponierte Klangräume und Archive betreten. Darüber hinaus gibt es noch einen Zugang für Experten oder Radiokunst-Fans - eine Ebene der Wissensvermittlung.
    Deutschlandfunk Kultur: Wie wurden die 200 Radiostücke ausgewählt?
    Singer: Das war ein langer kuratorischer Prozess. Zum Teil haben die Forscher des Forschungsprojekts ihre Themen mit eingebracht. Themen wie "Mobile Radio", die elektronischen Studios der Nachkriegszeit oder das Thema "Remix und Neuinszenierungen". Wir haben uns mit den Kuratoren zusammengesetzt und überlegt: Welche Werke waren wichtig? Was waren die Schlüsselmomente in der Geschichte? Wann hat sich etwas verändert, wann ist etwas Neues hinzugekommen? Welche Themen kehren immer wieder? Welche Werke sind ausschlaggebend für das Experimentieren und für die Radiophonie? Wir haben Themen zu Gruppen zusammengefasst - Narrative nennen wir sie - und daraufhin die Sender gefragt, welche Stücke ihrer Meinung nach dazu passen würden.
    Deutschlandfunk Kultur: Die Werke sind überwiegend deutschsprachig. Wie sieht es mit der Internationalität aus?
    Singer: Ich hatte auch eine Schweizer und eine französische Kuratorin im Team, um ein bisschen mehr in die anderen Länder zu gehen. Aber es ist viel Übersetzungsarbeit, die geleistet werden muss. Man braucht diese Vernetzung in die internationale Welt der Radiokunst - und die ist einfach nicht so bekannt. Insofern haben wir mit dem deutschsprachigen Raum angefangen - mit Stücken aus Österreich, Deutschland und der Schweiz. Danach haben wir erweitert mit einzelnen Werken aus den USA, viele stammen auch aus Frankreich, ein paar aus Spanien und Italien. Aber trotzdem ist die Internationalität erweiterbar, ausbaufähig, lückenhaft, im Prozess.
    Deutschlandfunk Kultur: Soll die Wanderausstellung auch in nicht-deutschsprachigen Ländern gezeigt werden?
    Singer: Das Goethe-Institut hat von Anfang an großes Interesse gezeigt, die Ausstellung im Anschluss durch die Welt reisen zu lassen. Das haben wir zunächst einmal nicht weiter verfolgt, weil es schon schwer genug war, die Rechte für die drei Orte - Basel, Weimar und Berlin - zu klären. Wenn sich noch mal jemand an die Rechteklärung wagt, könnte es weiter gehen. Das ist unser ausgesprochener Wunsch.
    Deutschlandfunk Kultur: Der Architekt und Klangkünstler Cevdet Erek hat die Radiokunst-Ausstellung visuell in den Raum übertragen. Wie hat er das gemacht?
    Prof. Nathalie Singer. Frau Singer steht lachend mit verschränkten Armen dem Fotografen zugewandt. Das Foto ist in schwarz-weiß 
    Prof. Nathalie Singer© Bauhaus-Universität Weimar / Jens Hauspurg
    Singer: Er hat sich überlegt: Wie sieht der Raum aus? Was für eine Klangarchitektur oder optische Architektur muss gefunden werden, damit dieses Konzept in einen Museumsraum und in einen öffentlichen Raum - wie im Haus der Kulturen der Welt in Berlin oder im Museum Tinguely in Basel - übertragen wird. Wie kann man die Idee des Archivs, des Radios, wiedergeben? Und vor allem: Wie kann man eine ätherische, nicht-visuelle Kunstform in eine Umgebung bringen, die ansonsten von visueller Kunst und optischen Eindrücken geprägt ist? Und ich finde, das hat er wunderbar gemacht, asketisch, sodass dem Klang wirklich Raum gelassen wird und man nicht erdrückt wird vom Optischen. Das ist sonst immer die Tendenz. Man denkt, da hängt man Bilder auf, damit die Leute auf jeden Fall was zu sehen haben. Das wollten wir nicht.
    Deutschlandfunk Kultur: Und wie geht es für Sie weiter nach den Ausstellungen in Berlin und Weimar?
    Singer: Die Ausstellung mit dem Goethe-Institut auch in anderen Ländern zu zeigen, war noch eine Idee. Langfristig wäre es natürlich schön, einen permanenten Ort zu haben, an dem man immer hören, nachlesen und gucken kann. Einen Ort der Radiokunst. Eine schöne Vorstellung! Das ist natürlich viel aufwändiger zu gestalten als eine Einzelausstellung. Ich fände es außerdem schön, weiter daran zu arbeiten, Klangarchive algorithmisch zu sortieren und zu gucken, was daraus entstehen kann. Aber erst einmal ruh ich mich ein bisschen aus. Ich habe jetzt drei Jahre durchgearbeitet udn bin erst mal froh, wenn ich meine Familie wieder sehe.

    Prof. Nathalie Singer ist Professorin für Experimentelles Radio an der Bauhaus-Universität Weimar. Mit ihrer Professur ist sie Teil des SNF-Sinergia Projekts "Radiophonic Cultures. Sonic environments and archives in hybrid media systems." Neben ihrer freiberuflichen Tätigkeit als freie Hörspiel- und Feature-Autorin, Komponistin und Produzentin für den Rundfunk war sie von 2002 bis 2007 Redakteurin beim Deutschlandfunk Kultur. Für die Entwicklung des neuen Kurzhörspielformats Wurfsendung erhielt sie 2005 den RadioJournal Rundfunk Preis.

    Das Interview für Deutschlandfunk Kultur führte Tania Palamkote.

    Die Orte der Wanderausstellung "Radiophonic Spaces":
    Haus der Kulturen der Welt in Berlin, 1. Oktober bis 10. Dezember 2018, mit Rahmenprogramm
    Museum Tinguely in Basel, 25. Oktober 2018 bis 27. Januar 2019
    Bibliothek der Bauhaus-Universität in Weimar, 26. Juli 2019 bis 19. September 2019
    Deutschlandfunk Kultur sendet am 23. November 2018 die Soundperformance, mit der der Klangkünstler Cevdet Erek die Ausstellung in Berlin eröffnet.