"Wahlsieg" der Nichtwähler in NRW

Das Problem mit der Demokratie "von oben"

Eine leere Wahlkabine in einem Abstimmungslokal.
Kein großer Andrang im Wahllokal: Am Sonntag lag der Anteil der Nichtwähler vor dem der CDU. © dpa / picture alliance
Von Nicol Ljubic · 16.05.2017
Jubel und Jammer nach der NRW-Wahl: Das Wesentliche werde aber ausgespart, kritisiert Nicol Ljubic. Dass trotz gestiegener Beteiligung ein gutes Drittel der Menschen nicht wählen ging, werfe kein gutes Licht auf den Zustand unserer Demokratie, so der Schriftsteller.
Am Sonntag wurde mal wieder gewählt, dieses Mal in Nordrhein-Westfalen und, wieder mal wurde über das wirklich Wichtige kein Wort verloren: Jeder dritte Wahlberechtigte ist nicht an die Urne gegangen. Oder anders gesagt: Mit 35 Prozent waren die Nicht-Wähler wieder mal die stärkste Kraft, an zweiter Stelle kam dann die vermeintliche Wahlsiegerin CDU mit 33 Prozent. Nicht anders war es vor zwei Wochen in Schleswig-Holstein. Dort lagen die Nicht-Wähler mit 36 Prozent ganz vorn, gefolgt von der CDU mit 32 Prozent.

Demokratie lebt vom Mitmachen

Die Spitzenpolitiker haben auch am Sonntag wieder mal den Moment verpasst, das Wesentliche auszusprechen: dass es ein trauriger Abend war für die Demokratie und dass darüber alle Gewinn- und Verlustrechnungen zur Marginalie werden. Wer sich als Politiker zwei Prozent schön rechnet, während 35 Prozent gar nicht wählen, hat leider nicht begriffen, um was es bei einer demokratischen Wahl wirklich geht oder noch schlimmer: Er hat es begriffen, es ist ihm aber egal. Wenn sich offenbar ein Drittel der Wähler durch die bestehenden Parteien nicht repräsentiert fühlt, ist das ein Problem für unser parlamentarisches System. Weil es die Legitimation von politischen Entscheidungen infrage stellt.
Demokratie lebt von Teilhabe, vom Mitmachen. Und es sollte das primäre Ziel der demokratischen Parteien sein, Menschen nicht nur Kreuzchen setzen zu lassen, sondern sie zur Mitgestaltung zu motivieren, indem sie ihnen Einfluss auf die Entscheidungsfindung ermöglichen. Und sie so vor dem Gefühlbewahren, nicht gehört zu werden.
Was aber machen uns die Parteien tatsächlich vor? Über den Kanzlerkandidaten der SPD hat allein Sigmar Gabriel im stillen Kämmerlein entschieden. Und wurde dafür von der Partei auch noch gefeiert. Martin Schulz wurde mit 100 Prozent der Stimmen gewählt, einen Gegenkandidaten- oder -Kandidatin gab es nicht, wie es eigentlich nie einen Gegenkandidaten gibt, wenn es um die wichtigsten Ämter in den Parteien geht. Und wenn sich doch jemand traut, kommt es einem Affront gleich.

Vertikale Entscheidungsstrukturen verfestigt

Ich selbst bin seit 13 Jahren Mitglied der SPD und wurde bislang ein einziges Mal nach meiner Meinung gefragt: als 2012 per Mitgliederentscheid über den Koalitionsvertrag entschieden wurde. Gerade in Zeiten der digitalen Kommunikationsmöglichkeiten wäre es kein Problem, die Menschen stärker in die Entscheidungsprozesse einzubinden. Statt sich aber für neue Formen der Beteiligung zu öffnen, suchen Parteien ihr Heil in einzelnen Personen. Nach dem Motto: Der Martin wird es schon richten. Und verfestigen damit vertikale Entscheidungsstrukturen: Demokratie von oben nach unten, statt von unten nach oben. Autoritäten statt Repräsentanten, Direktiven statt Diskussionen.
Es gibt viele Gründe, die Menschen vom Wählen abhalten, sie haben mit Politikern, Parteien und den Menschen selbst zu tun. Es ist unerlässlich, dass wir alle uns hinterfragen, Wähler wie Politiker. Diese Debatte zu führen, müsste allen Parteien das Wichtigste sein. Gerade jetzt, wo uns das Erstarken rechter und nationalistischer Parteien in Europa die Augen öffnen sollte. Gerade jetzt also, wo nicht nur die etablierten Parteien immer mehr an Zuspruch verlieren, sondern immer mehr Menschen die Demokratie selbst in Zweifel ziehen.
An jedem Wahlabend habe ich die Hoffnung, dass einer der Spitzenpolitiker endlich mal sagt, was gesagt werden müsste: "Diese Wahl ist eine Niederlage für uns alle, weil wir ein Drittel der Wähler nicht erreicht haben. Sich in irgendeiner Form zu freuen, verbietet sich angesichts dieser verheerend niedrigen Wahlbeteiligung." Das wäre mal überraschend und ganz im Sinne der Demokratie.

Nicol Ljubic ist Schriftsteller, Journalist, freier Autor. 1971 in Zagreb geboren, als Sohn eines Flugzeugtechnikers in Schweden, Griechenland und Russland aufgewachsen. Er studierte Politikwissenschaften und besuchte die Henri-Nannen-Journalistenschule in Hamburg. Seit 1999 lebt er als freier Journalist und Autor in Berlin und war dort Mitinitiator der Europäischen Schriftsteller-Konferenz im Mai 2014. Sein jüngster Roman "Als wäre es Liebe" (2012) ist bei Hoffmann und Campe erschienen.

Der Journalist und Schriftsteller Nicol Ljubic. Der 1971 in Zagreb geborene Ljubic wurde für seine journalistische Arbeit unter anderem mit dem renommierten Theodor-Wolf-Preis ausgezeichnet. Über seine Erfahrungen nach dem Eintritt in die SPD schrieb er das Buch "Genosse Nachwuchs. Wie ich die Welt verändern wollte". 
© picture alliance / dpa / Karlheinz Schindler
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