Vulgarität

Von Wolfgang Sofsky · 04.03.2007
Rüpel finden sich überall: auf der Straße, im Stadion, im Bierzelt oder im Fernsehstudio. Ihre Zahl ist groß, denn sie sind längst medientauglich und gesellschaftsfähig. So populär sind ihre Unsitten, dass Kritik sofort den Verdacht elitärer Arroganz oder prüden Spießertums aufkommen lässt. In Zeiten der Gleichheit wagt kaum jemand mehr, für distinguiert gehalten zu werden.
Vulgär, das sind keineswegs nur die Entäußerungen des Körpers, das Gähnen und Gröhlen, Schmatzen und Schlürfen, Rülpsen und Furzen, das öffentliche Gestammel, die obszönen Witze oder die Enthüllung privater Geheimnisse. Vulgär, das ist auch keineswegs nur die Vorliebe für kolossale Besäufnisse, Plastiktischdecken, weiße Socken oder Tätowierungen an der Gürtellinie. Mitnichten ist Geschmacklosigkeit auf die unteren Klassen beschränkt. Das Hässliche, Rohe und Bösartige beherrscht alle Subjekte, die ihren spontanen Regungen folgen. Sie haben keinen Anstand, weil sie keinen Abstand zu sich selbst haben. Vulgarität ist die Extremform der Unhöflichkeit. Sie missachtet jede Etikette – im Namen der Wahrhaftigkeit, Natürlichkeit oder der lebensfrohen Geselligkeit.

Impertinent sind auch jene halbgebildeten Subjekte, die sich bedenkenlos jeder Geschmacklosigkeit anschließen. Sie richten ihre Mitteilungen nach dem Dümmsten und bedienen Ressentiments, weil es ihnen zu Quote, Absatz, Prominenz oder Wählerstimmen verhilft. Die Anpassung nach unten betrifft sogar die klassischen Kultursparten. Die Sprache wird so lange reformiert, bis keiner mehr Fehler macht; die Überlieferung wird so deformiert, dass sie jeder auf Anhieb versteht. Seichte Arrangements garantieren raschen Hörgenuss, und auf den Bühnen verdrängen rüde Gesten den Hintersinn der Wörter.

Einst diente die Etikette in der Demokratie dazu, die ehrwürdige Pantomime zwischen Herr, Dame und Knecht auf den Verkehr unter Gleichen zu übertragen. In der Ochlokratie indes, dem Regime des Pöbels, gilt nur mehr die Rüpelei der Niedrigen. Hier gilt die Ideologie der Gleichheit. Sie sorgt dafür, dass niemand mehr ein höheres Niveau erreicht. Denn sie drückt alle Menschen hinab auf den kleinsten gemeinsamen Nenner: die Regungen der animalischen, physischen Existenz.

In einer höflichen Welt hätte der einzelne nur Pflichten, keine Rechte. Man kann unmöglich von anderen Respekt einfordern. Anerkennung wird freiwillig erbracht oder gar nicht. Der Vulgäre indes kehrt diese Asymmtrie radikal um. Für sich nimmt er sich jedes Recht heraus. Er rückt anderen auf den Leib, missachtet alle privaten Grenzen und ist bass erstaunt, falls jemand es wagt, auch nur pikiert die Nase zu rümpfen.

Der Vulgäre verhält sich plump, laut und grob. Scham oder Schuld sind ihm ebenso fremd wie der Sinn für feinere Genüsse. Sein Horizont ist eng. Er sieht nur sich selbst. Blickt er in den Spiegel, ist er hochzufrieden. Niemals plagt ihn ein Gefühl eigenen Ungenügens. Er will nur bleiben, wie er ist. Da er Formen und Grenzen verachtet, gewinnen seine Impulse freie Bahn. Er kennt keine Selbstbeherrschung. Sich in die Perspektive anderer zu versetzen, wäre ihm lästig. Er trampelt umher, und wird er eines Malheurs ansichtig, stellt er es laut grinsend heraus. Nachlässigkeiten bauscht er auf, fremde Fehltritte bereiten ihm Vergnügen. Ohne Seitenblick freut er sich seines Gebarens und bemerkt nicht einmal, was für Gestalten sich um ihn scharen.

Seine Claqueure sind nämlich ähnlich ordinär wie er selbst. Johlend schlagen sie sich auf die Schenkel, wenn sie einen Witz wieder erkennen, geraten in Begeisterung bei wohl vertrauter Blödelei. Nicht wenige Duckmäuser feiern das vulgäre Idol. Der Star ist so, wie sie gern sein möchten. Er nimmt sich heraus, was sie selbst nicht zu tun wagen. Im Alltag will der Biedermann um keinen Preis auffallen. Doch insgeheim sehnt er sich nach Zügellosigkeit, nur zu gern möchte er das Zwangskorsett sprengen. Sein vulgäres Idol macht es vor. Er kommt aus der Mitte eines Publikums, dessen Nähe er bei jedem Auftritt sucht. Der Pöbel und der Star, sie bilden einen sozialen Kreis, verbunden durch die niederen Instinkte.

Groß ist die Freude des Vulgären, wenn er andere bloßstellen, der Lächerlichkeit preisgeben kann. Anzügliche Bemerkungen und halblaute Indiskretionen sind seine Spezialität. Aber seine Opfer sind manchmal selbst derart geltungssüchtig, dass sie sich alles gefallen lassen. Um jeden Preis wollen sie bekannt werden, auch wenn ihre Stimme schrill und hysterisch, ihre Meinung idiotisch und ihr Erscheinungsbild bestenfalls kurios ist. Zu keiner Banalität sind sie sich zu schade. Je skurriler und schamloser, desto größer die Resonanz. Im Gelächter der Zuschauer erkennen sie keine Erniedrigung, sondern nur Bestätigung. Alle sind sie zufrieden. Der Gastgeber verschafft sich einen effektvollen Auftritt, der namenlose Gast fühlt sich auf dem Höhepunkt seines dürftigen Lebens, und die Zuschauer stellen befriedigt fest, dass die anderen auch nicht besser sind als sie selbst.

Die Unsitten gewinnen im Alltag mehr und mehr Terrain. Vulgarität öffnet den Lastern Tür und Tor: der Schadenfreude und Geltungssucht, der Torheit und der Barbarei. Sie konfrontiert die Menschen mit ihren niedrigsten Eigenschaften. Höflichkeit bewahrt vor der Einsicht, dass die Mehrzahl der Zeitgenossen nur von mäßigem Format ist. Sie wahrt die Fiktionen der Menschenfreundlichkeit und erlaubt soziale Kontakte auch ohne Menschenliebe. Für ein positives Selbstbild der Gattung ist dieser Selbstbetrug unentbehrlich. Vulgarität hingegen zerstört die Grundlagen der Gesellschaft. Sie streicht jeden Respekt und erzeugt ein Klima gegenseitiger Verachtung und Feindseligkeit. Sie verdrängt die freundliche Geste durch rüde Gebärden und führt so geradewegs in einen Zustand, wo jeder den anderen mit sich selbst terrorisiert.

Wolfgang Sofsky, Jahrgang 1952, ist freier Autor und Professor für Soziologie. Er lehrte an den Universitäten Göttingen und Erfurt. 1993 wurde er mit dem Geschwister-Scholl-Preis ausgezeichnet. Er publizierte u.a.: "Die Ordnung des Terrors. Das Konzentrationslager" (1993), "Figurationen sozialer Macht. Autorität - Stellvertretung – Koalition" (mit Rainer Paris, 1994) und "Traktat über die Gewalt" (1996). 2002 erschien "Zeiten des Schreckens. Amok, Terror, Krieg", und zuletzt der Band "Operation Freiheit. Der Krieg im Irak".
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