Vorwärts in den Irrsinn

09.12.2009
Unerschrocken begibt sich Rainald Goetz in seinem Buch "Loslabern" ins Kampfgetümmel des Kulturbetriebs und an die Ränder der Macht. Dabei verhält er sich als sensibler, sich selbst nicht schonender Beobachter.
"Loslabern" ist - nach dem zum Buch gewordenen Internet-Tagebuch "Klage", das vom Februar 2007 bis Juni 2008 reichte - der zweite Band einer Reihe, die Rainald Goetz mit dem Titel "Schlucht" überschreibt. Vorausgestellt hat er beiden Büchern ein Motto aus Psalm 23: "…und müsste ich gehen in dunkler Schlucht". Wie in "Klage" geht es auch in "Loslabern" um die unmittelbare Gegenwart, diesmal um den Herbst 2008. Es ist die Zeit der Lehmann-Pleite und der abstürzenden Börse, von Uwe Tellkamps Roman "Der Turm", dem Unfalltod Jörg Haiders und dem Rücktritt von Kurt Beck am Schwielowsee. Das ist viel Stoff für einen, der dem Irrsinn beharrlich auf der Spur bleibt. Rainald Goetz ist der Chronist der durchgeknallten Zeit, allerdings ein Chronist, der sich nicht nur aufs Zuhören, sondern mehr noch aufs "Loslabern" versteht.

Unerschrocken begibt er sich ins Kampfgetümmel des Kulturbetriebs und an die Ränder der Macht. Er beginnt seinen Report auf der Frankfurter Buchmesse, wo er beim Empfang im Haus des Verlegers Joachim Unseld zu Gast ist, allerlei Schriftstellerkollegen, Journalisten und Prominente trifft und von einer Begegnung mit dem Autor Christian Kracht berichtet, dessen erstes Buch er so sehr schätzte wie er die folgenden fragwürdig fand. Wie kompliziert das Verhältnis von Autoren untereinander ist, lässt sich an solchen Stellen erahnen.

Goetz ist ein sensibler, sich selbst nicht schonender Beobachter. Sein Besuch des FAZ-Herbstempfanges in einem Berliner Edelhotel ist der Höhepunkt dieses Buches. Da sieht er mit Bestürzung zu, wie Bundeskanzlerin Merkel inmitten der FAZ-Herausgeber tafelt und denen, die sie in devoter Haltung umringen, eine Art exklusiver Pressekonferenz gewährt. Er führt ein längeres Gespräch mit Frank Schirrmacher, dem er mangelnde Seriosität vorhält. Doch schon während Goetz spricht – und das ist das Bemerkenswerte – ist ihm klar, wie falsch das Gesagte ist: Die Feuilleton-Seriosität der 70er-Jahre will er ja nicht im Ernst zurückhaben. Denn das hieße ja auch und noch mehr: "Hochkulturarroganz", "Seriositätsaufgeblasenheit", "Ernsthaftigkeitswichtigtuertum" und "Angeberjargongelalle".

Es gibt kein Zurück in eine bessere, vernünftigere Vergangenheit. Stattdessen gilt die Parole "Vorwärts in den Irrsinn". Ob Feuilleton, Kunst oder Finanzwelt: Was einem "in diesen Tagen und Wochen des Herbstes 2008 in so grandioser Weise ins Gesicht explodierte jeden Tag neu, war ein herrlicher Weltmotor."

Goetz begegnet diesem geballten Weltirrsinn mit hochartistischem Gelaber: einer wütenden, witzigen, wahnsinnigen Tirade. Das ist die äußerste mögliche Reaktion. Im "Loslabern" nimmt die Sprache Tempo auf, um mit den Ereignissen mitzuhalten. Endlich fallen "Leben" und "Kritik" nicht mehr auseinander. Wer schneller spricht als er denkt, der ist sich selbst voraus. Das ist ein Akt der Reinigung. Rainald Goetz erklärt das "Loslabern" zum "ethischen Akt". Ein "Traktat über den Tod, über Wahn, Sex und Text" schwebte ihm vor, und das ist aus diesem rasend komischen, bösartigen, mitreißenden Buch auch geworden. "Mittendrin statt nur dabei": Der Slogan eines Sport-TV-Senders wird bei Goetz zu einer wahrhaft kulturkritischen Lebenshaltung.

Man muss in dem ganzen Wahnsinn drinstecken, um ihn zu verstehen. Wer nicht eintaucht ins Chaos, begreift es nicht. Goetz lässt uns ahnen, dass wir schon lange nicht mehr zu retten sind. Ihm scheint das Spaß zu machen. So kommt er richtig in Fahrt.

Besprochen von Jörg Magenau

Rainald Goetz: Loslabern
Suhrkamp, Frankfurt am Main 2009
188 Seiten, 17,80 Euro