Vorlesen ist der Königsweg zum Buch

Moderation: Maja Ellmenreich · 08.09.2005
Der Kinderbuchautor und Erfinder der "Sams"-Figur, Paul Maar, sieht im Vorlesen durch die Eltern die wesentliche Grundlage für eine spätere Lesebegeisterung von Kindern. So könnten vor allem kleine Kinder noch nicht wissen, was eine Geschichte überhaupt ist, erklärte Maar im Deutschlandradio Kultur.
Maja Ellmenreich: Der erste Satz reicht meist aus, um einen Wortschwall in Gang zu setzen - bei Lesern aller Altersklassen. "Am Sonntag scheint die Sonne", so geht’s los. Und dann folgt: "Am Montag kommt der Mond zu Besuch, am Dienstag geht’s zum Dienst, Mittwoch ist Mitte der Woche, Donnerstag donnert es, am Freitag ist frei und am Samstag, da kommt das Sams". Das Sams ist ein freches kleines Wesen in einem Taucheranzug, mit Schweinsnase und blauen Wunschpunkten im Gesicht. Der Kinderbuch-Klassiker von Paul Maar, millionenfach gekauft, gelesen, vorgelesen, gemalt, und eben zitiert.

Am Sams und an Paul Maar kann es also nicht liegen, dass laut Pisa-Studie 25 Prozent der Schulabsolventen schlecht lesen können. Beim 5. Literaturfestival in Berlin liest Paul Maar heute Nachmittag, jetzt aber ist er zu Gast hier im Deutschlandradio Kultur. Ich freue mich ganz besonders, guten Morgen.

Paul Maar: Guten Morgen.

Ellmenreich: Herr Maar, ist das so eine klassische Autorenlesung heute Nachmittag? Sie an einem Tisch mit einem Glas Wasser vor einem Mikrofon und einer ganzen Menge aufmerksam hörender Zuschauer und Zuhörer?

Maar: Es wird wahrscheinlich so in diese Richtung gehen. Das einzige, was mich vielleicht von einem anderen Schriftsteller unterscheidet, ist die Tatsache, dass da auf der Bühne ein Flipchart steht. Ich habe gehört, es werden etwa 400 Kinder im Saal sitzen; und um die Aufmerksamkeit nach vorne zu holen, da genügt es oft, eine kleine Skizze zu machen und die Kinder staunen manchmal mit offenem Mund tatsächlich, so schnell kann der zeichnen oder so, toll. Und dann gucken sie und dann schauen sie schon nach vorne und dann kann man anfangen vorzulesen. Es ist einfacher, als wenn ich sage: Hallo, ich bin Paul Maar, jetzt lese ich euch etwas vor und dann reden sie immer noch ein bisschen weiter.

Ellmenreich: Sie haben also Zuhörer und Zuschauer. Das sind aber ja nicht immer gleich begeisterte Leser. Einer Untersuchung zufolge sagt ein Drittel der deutschen Schüler, Lesen sei Zeitverschwendung. Was macht das Lesen so unattraktiv für Kinder Ihrer Meinung nach?

Maar: Also ich lerne natürlich immer nur die Kinder kennen, die gerne lesen. Wenn ich nachmittags in die Stadtbibliothek komme, um vorzulesen, dann weiß ich, es sind die Kinder, die sowieso zweimal in der Woche sich Bücher ausleihen. Und die lerne ich kennen. Etwas anderes ist es, wenn ich in Klassen vorlese. Dann - wenn ich mich dann mit den Kindern unterhalte, dann stelle ich fest, also zwei Drittel der Kinder kennen meine Bücher oder lesen überhaupt. Es läuft meistens so, wenn ich sage, wer von euch liest, dann melden sich erst mal alle. Weil Kinder einfach sehr höflich sind und nett sein wollen.

Ellmenreich: Das macht einen guten Eindruck

Maar: Und es macht einen guten Eindruck. Und wenn ich dann aber nachfrage, was hast du denn gelesen? Und dann stellt sich schon heraus, na ja, eigentlich gar nichts, ja, oder ein Comicheft habe ich angeschaut zuletzt. Ich stelle nur fest, dass dieses Vorlesen in der Klasse manchmal so ein richtiges Aha-Erlebnis ist für einige Kinder. Und ich bekomme dann erfreulicherweise oft Rückmeldung von den Lehrern, die mir dann schreiben, stellen Sie sich vor, Uwe oder auch Ali hat noch nie ein Buch ausgeliehen in der Schülerbücherei, in unserer Klassenbibliothek; und nachdem Sie weg waren, hat er gefragt, was hat denn der noch geschrieben? Den Namen wusste er schon nicht mehr, der bei uns vorgelesen hat und dann zum ersten Mal ein Buch ausgeliehen. Es kann oft daran liegen, dass so ein Anstoß von außen fehlt, jemand mit Geschichten oder mit Büchern bekannt zu machen.

Ellmenreich: So ein Anstoß, der fehlt in vielen Familien. Eine andere Studie der Stiftung Lesen, die sagt aus, dass nur noch in jeder dritten Familie vorgelesen wird. Ist also eigentlich keine Hoffnung in Sicht für Kinder, denen nicht vorgelesen wird?

Maar: Na ja, es ist schon schwierig, also ich finde, dass Vorlesen ungeheuer wichtig ist. Man soll selbst schon zwei- oder dreijährigen Kindern winzige Geschichten erzählen, am besten frei erzählen, damit man nicht immer in das Buch blicken muss. Wenn man keine erfinden kann, dann könnte man ja vielleicht eine einfache Geschichte vorher erst lesen als Erwachsener, als Großvater, als Eltern, als Tante und sie dann frei erzählen. Wenn man dann Blickkontakt hat und es so eine emotionale Nähe zwischen dem Erzählenden und dem zuhörenden Kind entsteht.

Also Geschichten erzählen ist insofern sehr wichtig - meine ich, das ist meine Überzeugung - als ein kleines Kind ja noch gar nicht wissen kann, was das ist, eine Geschichte. Also, es hört Alltagsdialoge, es hört Gespräche, aber das sind ja alles keine Geschichten. Es muss sich erst im Kopf so ein Muster bilden, eine Geschichte hat einen Anfang, hat einen Höhepunkt, dann geht es zum Schluss. Und wie bei einer Symphonie, wo man schon bei den letzten fünf, sechs Takten merkt, so, jetzt kommt der Schluss, ist es auch bei Geschichten, dass man merkt, aha, jetzt kommt das gute Ende.

Und wenn man einem Kind fünf, zehn oder auch zwanzig Geschichten erzählt hat zwischen dem dritten und dem fünften oder dem sechsten Lebensjahr, ich glaube, da entsteht fast so etwas wie eine Sucht, diese Geschichten weiter zu hören, andere Geschichten zu hören. Und wenn dann mit sechs, sieben oder acht das Geschichtenerzählen aufhört und das Kind aber begreift, ich kann ja Geschichten nachlesen, weil ich inzwischen lesen kann, dann ist das, glaube ich, der goldene Weg, der Königsweg zum Buch.

Ellmenreich: Aber leider finden ja der ein oder andere Junge, das ein oder andere Mädchen diesen goldenen Weg ja nicht. Ich denke manchmal, das ist so eine Art Sollbruchstelle, der Schritt vom guten und aufmerksamen Zuhören zum wirklich passionierten Selberlesen, den schafft nicht jeder.

Maar: Es schafft nicht jeder, ich weiß auch nicht, ob es jeder schaffen muss. Es ist natürlich so, dass es sehr viel einfacher ist, den Fernseher anzustellen, sich davor zu setzen und sich eine Geschichte anzuschauen. Wobei es halt auch, weil Sie diese Untersuchung erwähnen, Untersuchungen gibt, dass man Kindern eine Geschichte vorliest und eine Geschichte im Fernsehen zeigt, und nach vier Wochen, nach acht Wochen, nach zwei Monaten sie nacherzählen lässt. Die erzählte oder vorgelesene Geschichte bleibt viel länger und viel präziser im Gedächtnis, während die gesehene Geschichte schon nach einer Woche ziemlich weg ist und überlagert von anderen Eindrücken.

Ellmenreich: Also eine nicht wirklich zu gebrauchende Konkurrenz, die aus dem Fernsehen kommt?

Maar: Ja, also viel, viel tiefer und elementarer ist die gelesene oder die erzählte Geschichte, bei der sich das Kind seine Bilder selber schaffen muss. Also wenn ich in einer Geschichte erzähle - jetzt nehme ich ein Märchen von einem Prinzen, der sich in einem dunklen Dornenwald verirrt und kaum noch hinauskommt, wobei im Märchen immer der äußere Schauplatz meistens der Spiegel einer innerseelischen Verfassung ist. Es ist dann ganz bestimmt ein verzweifelter Prinz, der im Dornenwald ist und kein besonders fröhlicher oder heiterer.

Dann muss sich das Kind den Wald imaginieren, es muss sich den Wald verstellen. Und jedes Kind wird diesen düsteren Dornenwald gerade so schrecklich machen, wie es ihn noch aushalten kann. Anders beim Fernsehen: Da sehen alle Kinder denselben Wald und je nachdem, wie der Regisseur entschieden hat, ist es ein lichter oder ein eher dunkler Wald. Und die Fantasie wird gewissermaßen vorgeformt.

Ellmenreich: Herr Maar, Sie sind nicht nur Autor, sie sind auch Illustrator und haben viele Ihrer Bücher selbst mit Bildern ausgestattet, haben das Sams zum Beispiel gemalt. Ist das so eine Art Starthilfe, so ein Bild, um die Fantasie erst richtig in Gang zu bringen?

Maar: Ja, es gibt eine Untersuchung, dass Kinder Bücher, die nicht illustriert sind, ablehnen. Ich habe das selbst auch beobachtet in Büchereien; nach meiner Lesung in der Stadtbibliothek beobachte ich natürlich ein bisschen die Kinder. Es kommt sehr auf das Titelbild an. Die Kinder ziehen das Buch aus dem Regal, schauen es an und stellen es wieder hin, ohne sich überhaupt darum zu kümmern, wovon die Geschichte handelt und wer das geschrieben hat. Und wenn sie das auch noch durchblättern und dann feststellen, da sind ja gar keine Bilder drin, dann kommt das sofort wieder zurück.

Also Kinder verlangen nach Bildern. Und ich habe ja angefangen eigentlich mit Bildern und bin dann zum Erzählen gekommen. Ich war erst an der Kunstakademie und wollte Maler und Illustrator werden und bin über das Illustrieren von Büchern zum Schreiben gekommen.

Ellmenreich: Welche Geschichten haben Sie geschrieben, was ist das Wichtige, was muss man Kindern erzählen? Und was müssen Kinder lesen?

Maar: Was müssen Kinder lesen? Das würde ich sagen, kann man nicht festlegen. Es gibt sicherlich Kinder, die hauptsächlich Sachbücher lesen und es ist dann genau richtig für sie, weil sie so veranlagt sind. Wieder andere Kinder wollen sich in den Geschichten möglichst wiedererkennen. Und andere lieben fantastische Geschichten, wo sie einfach vielleicht auch aus einer schwierigen Situation ausweichen können in eine Fantasiewelt, in der es ein gutes Ende gibt.

Ich kann von mir selbst sagen, ich liebe Geschichten, die realistisch anfangen, wo ich erst versuche, eine ganz normale, realistische Alltagssituation ziemlich präzise zu beschreiben. Das Kind weiß dann, wer ist die Hauptperson, wo wohnt sie, wie wohnt sie, was hat sie für einen Beruf, was hat sie für Eigenschaften. Und in diese ganz normale Welt kommt dann irgendein fantastisches Element, sei es ein Sams, sei es ein Herr Bello oder Ähnliches, und verändert die Wirklichkeit. Und hinterher, wenn dieses Wesen wieder geht, hat es die Menschen verändert zurückgelassen.

Und ich denke, das ist auch noch etwas, was ich beherzige bei meinen Geschichten: Ich denke, man sollte mit sehr viel Witz und mit viel Humor eine Geschichte erzählen den Kindern.

Ellmenreich: Weil nicht nur Erwachsene, sondern auch Kinder Humor schätzen?

Maar: Ich glaube manchmal, dass Kinder Humor noch mehr schätzen als Erwachsene.

Ellmenreich: Der Kinder- und Jugendbuchautor Paul Maar, Erfinder des rüsselnasigen Sams, im Gespräch mit Deutschlandradio Kultur. Ich danke Ihnen ganz herzlich.

Maar: Bitte.
Lesen macht Spaß
Lesen macht Spaß© Stock.XCHNG / joana franca