Vorbild Gagarin

09.10.2008
Christoph Kuhns Roman "Am Leben" beschreibt eine Kindheit in der DDR. Die Welt seiner Hauptfigur Tilman ist geprägt von Indianerspielen oder dem Versuch, Juri Gagarins Flug ins All mit einer selbstgebastelten Rakete nachzustellen. Seine Welt verändert sich, als der Kurzsichtige eine Brille bekommt und plötzlich alle verzerrten Konturen scharf erkennen kann.
Die Zeit scheint reif zu sein für Kindheitserinnerungen hinter dem Eisernen Vorhang. Gleich zwei Bücher sind jetzt auf dem deutschen Markt erschienen. Die gebürtige Slowakin Irena Brezná lässt in ihrem neusten Roman "Die beste aller Welten" die 11-jährige Jana als Icherzählerin ihr Leben in zwei Welten schildern. Die Werte des gutbürgerlichen Elternhauses stehen im Widerspruch zum sozialistischen Heldenpathos Anfang der 60er Jahre in einem slowakischen Dorf.

Auch Christoph Kuhn will erinnern – an seine Kindheit in der DDR. Will dem Vergessen und der Verklärung entgegenschreiben und ein detailgetreuer Zeitzeuge sein, in der Gestalt eines kurzsichtigen Jungen.

Tilman ist im Jahr 1961 elf Jahre alt. Er lebt mit seinem älteren Bruder, seinen Eltern und Großeltern in Dresden. Seine Welt wird geprägt von den Indianerspielen mit dem großen Bruder Stephan und dessen Freund Burkhard, ihrem Versuch, Gagarins Ausflug ins All mit einer selbstgebastelten Rakete nachzustellen und der gemeinsamen heimlichen Schwärmerei für die frühreife Fee. Diese kindlichen Rückzugsgebiete sind wichtig, wenn die Werte des christlich geprägten, gutbürgerlichen Elternhauses auf den sozialistischen Pioniergeist treffen.

In der Schule wird der erste Weltraumflug des Kosmonauten Gagarin als Sieg des Sozialismus über den Kommunismus und die Religion gefeiert. Zu Hause versucht der Vater, seine Söhne schätzen zu lassen, wie weit der Kosmonaut ins Weltall vorgedrungen sei, wenn die Erde die Größe eines Apfels hätte. – Nicht einen Meter wie Stephan meint, sondern im Abstand von der Stärke des Seidenpapiers von der Westapfelsine habe der Kosmonaut die Erde umrundet. "Der Himmel" bleibt auch für die Helden des Sozialismus unerreichbar. Tilman ist beruhigt. Und doch verändert sich auch Tilmans Welt ständig, besonders nachdem er eine Brille bekommt und plötzlich all die verzerrten Konturen scharf erkennen kann.

Christoph Kuhn wurde 1951 in Dresden geboren, studierte Augenoptik in Jena und ist seit 1989 freiberuflicher Autor. Zurzeit lebt er als Stadtschreiber in Gotha. Er schreibt Erzählungen, Lyrik, Essays und Geschichten für Kinder. "Am Leben" ist sein erster Roman.

Der Autor lässt nicht nur Tilmans kindliche Welt sondern auch die der Eltern und Großeltern in ihrem eigenen Sprachduktus entstehen. Dabei wirkt er nie belehrend oder nostalgisch. Stattdessen werden auf einfache Weise durch sehr präzise Art Bilder geweckt, Nuancen beschrieben. Wort- und Sprachwitz nehmen dem Roman jegliche Schwere und die Überlegungen eines Elfjährigen können in ihrer Logik schon verblüffend sein. Dinge gehen nicht nur "entzwei" sondern viel häufiger "entvier".

Das reizvollste am Stil von Christoph Kuhn ist seine klare, schlichte Sprache gemischt mit einer ganz exakten Beobachtungsgabe. So erlebt der Leser in den kleinsten Kleinigkeiten Situationen wieder, die er schon vergessen hat, die ihm aber, wenn er daran erinnert wird, sofort wieder völlig vertraut sind. Es ist wie ein bestimmter Geruch, den man lange nicht wahrgenommen hat und der einen dann plötzlich in eine andere Zeit zurückversetzt.

Rezensiert Birgit Koß

Christoph Kuhn, Am Leben. Roman,
Wartburg Verlag, Weimar, 2008
152 Seiten, 16 Euro
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