"Vor vorschnellen Urteilen hüten"

Christian Schrapper im Gespräch mit Joachim Scholl · 12.11.2010
Der Runde Tisch Heimerziehung geht in die Endrunde. Die Opfer, die daran teilnehmen, fühlen sich jetzt schon "betrogen", aber so einfach sei das nicht, sagt Christian Schrapper, Sachverständiger an Runden Tisch. Bei den Konflikten zwischen den früheren Heimkindern und den anderen Teilnehmern müsse man sich "vor vorschnellen Urteilen hüten".
Joachim Scholl: Vor zwei Jahren rief der Bundestag diesen Runden Tisch zusammen. Unter dem Vorsitz von Antje Vollmer geht es um körperliche wie seelische Schäden, unter denen frühere Heimkinder kirchlicher wie staatlicher Einrichtungen bis heute leiden. Doch von Anbeginn der Diskussion gab und gibt es Konflikte zwischen den Betroffenen und den anderen Teilnehmern am Runden Tisch.
Tobi Müller fasst die Probleme zusammen.
Wir sind jetzt verbunden mit Christian Schrapper, Pädagoge an der Universität Koblenz, er nimmt am Runden Tisch als Sachverständiger teil. Guten Tag, Herr Schrapper!

Christian Schrapper: Guten Tag!

Scholl: Die Vertreter der Heimkinder fühlen sich bevormundet und dadurch gedemütigt, was sagen Sie zu diesem Vorwurf?

Schrapper: Wie immer ist die Geschichte etwas komplizierter. Als der Runde Tisch zusammengesetzt wurde, sind die Plätze verteilt worden, und als Einzige hat der Verein ehemaliger Heimkinder drei Plätze an einem Runden Tisch bekommen, alle anderen Institutionen jeweils nur einen. Diese drei Plätze sind dann zu Beginn auch von dem Verein mit dem damaligen Vorstand und Vorstandsmitgliedern besetzt worden: Herr Dr. Wiegand, Frau Fleth und Frau Djurovic. Im weiteren Verlauf, dann schon sehr bald, haben sich Mitglieder und Vorstand in dem Verein, soweit ich das von außen wahrnehmen konnte, zerstritten, und Herr Wiegand und die beiden anderen hatten nicht mehr das Mandat des Vereins. Auf der anderen Seite war bei der Zusammensetzung des Runden Tisches für alle, die dort Vertreter hin entsandt haben, klar, dass es eine persönliche Entsendung ist, keine Plätze, die beliebig von Vertretern wahrgenommen werden können, und diese Grundposition ist dann auch gegenüber dem Verein vertreten worden. Sie haben einmal Personen entsandt, bei denen bleibt es.

Scholl: Sie sind Professor für Pädagogik, Herr Schrapper, weitere 18 Akademiker sitzen am Tisch, das ist natürlich schon eine geballte intellektuelle Übermacht, während die Heimkinder meist andere Sozialisationen haben, viele von Hartz IV leben. Dass Sie sich der Diskussion, wie Sie und Ihre Kollegen sie führen können, naturgemäß nicht gewachsen fühlen, das kam natürlich auch so, sozusagen als Vorwurf kursierte das. Können Sie das nicht nachvollziehen?

Schrapper: Ich kann es nachvollziehen, aber auch hier gibt es noch was dazu zu sagen: Zum einen ist dann sehr schnell am Runden Tisch entschieden worden, dass jeder persönlich auch einen Vertreter oder eine Vertreterin benennen kann, und nur für die Vertreter der ehemaligen Heimkinder ist dann entschieden worden, dass diese Vertreter regelmäßig an allen Sitzungen teilnehmen und auch Rederecht haben, und dass diese Sechsergruppe gemeinsam noch einen Vorbereitungstermin unterstützt bekommt, die zusätzlichen Kosten übernommen werden und auch jemand aus dem Runden Tisch – das hat dann Herr Schruth übernommen, selber auch Jurist – in dieser Vorbereitung sie unterstützt. Und sozusagen ein Weiteres, das zeigt auch, dass wir uns da vor vorschnellen Urteilen hüten müssen: Von diesen sechs Vertretern der ehemaligen Heimkinder sind auch zwei ausgewiesene Akademiker. Also nicht so schnell sozusagen mit der Gegenüberstellung.

Scholl: Nun fordern die Heimkinder unter anderem, dass ihnen das angetane Unrecht auch als Menschenrechtsverletzung und als Zwangsarbeit anerkannt wird. Das wird laut dem Zwischenbericht von der Mehrheit am Runden Tisch abgelehnt. Stimmt das?

Schrapper: Der Zwischenbericht ist entstanden zu einem Zeitpunkt, als der ganze Komplex – Was ist damals wirklich passiert und wie ist es zu bewerten? – nur in einem ersten Anlauf, ich würde jetzt mal sagen durchdrungen wurde. Und diese Ablehnung der Menschenrechtsverletzung ist auch durchaus strittig gewesen, und sie ist mit zugegeben, wie ich auch fand damals, windelweichen Formulierungen ist dieses Thema im Zwischenbericht umschifft worden. In dem Endbericht gibt es dazu klare Positionen, das ist inzwischen anerkannt, das deutete sich auch damals schon an. Aber ich finde hier auch noch mal wichtig: Der Zwischenbericht ist ja keine wissenschaftliche Kommission, sondern sozusagen ein Tisch, an dem Meinungen gebildet werden müssen, die die jeweiligen Vertreter der Institutionen, die dort mit sitzen, dann auch wieder als Personen in ihren Institutionen zurückvermitteln und dort besprechen müssen. Und da muss man, glaube ich auch, dem Runden Tisch schlicht zugutehalten, dass er diese drum und bei anderthalb Jahre gebraucht hat auch für eine Meinungsbildung, die dann tatsächlich mehrheitsfähig ist.

Scholl: Wie sieht die Diskussion am Runden Tisch aus in Sachen Entschädigung? Der Verband ehemaliger Heimkinder verlangt etwa, dass die Krankenkassen die Therapien posttraumatischer Belastungsstörung übernehmen – wie stehen hier die Chancen?

Schrapper: Nach meiner Einschätzung, das ist, im Moment wird viel hinter den Kulissen, so wie Sie es eben auch in der Anmoderation gesagt haben, diskutiert, ich hoffe nicht sozusagen geschoben und geschummelt, aber doch diskutiert. Aus meiner Sicht sind zwei Forderungen unstrittig. Das ist zum einen eben die genannte Forderung nach Übernahme von Behandlungskosten, aber auch anderen Kosten, die entstehen, weil die Folgen, die individuellen Folgen von Heimerziehung heute für die Betroffenen gemildert und daran gearbeitet werden muss. Unstrittig ist auch die Forderung einer umfassenden Aufarbeitung, die ja noch lange zu Ende ist, und auch einer umfassenden Bitte um Entschuldigung und um Anerkennung und Rehabilitierung, wie es dann immer heißt. Strittig ist durchaus – so sehe ich es auch nach wie vor – die Forderung einer individuellen monetären Entschädigung in Form einer Opferrente oder einer Entschädigungszahlung.

Scholl: Das ist einer der kritischsten Punkte, die Renten oder Einmalzahlungen, die diskutiert werden – 300 Euro monatlich oder 50.000 Euro Einmalzahlung. Ist das viel oder ja, zu wenig für einen traumatisiertes Leben? Wie sind hier die Positionen, wie ist Ihre?

Schrapper: Also aus der Perspektive des Einzelnen ist es immer noch wenig, sehr wenig, und eröffnet möglicherweise ein etwas, etwas angenehmeres Leben auch angesichts der sonstigen Einkünfte, die doch – und da haben Sie natürlich recht – ein Großteil dieser Menschen heute haben, wovon sie leben müssen, Stichwort Hartz IV oder andere Ersatzeinkommen. In der Summe, die damit auch öffentlich zu rechtfertigen ist, ist es viel. Also die Zahlen, wie viele werden denn diese Entschädigungsforderung geltend machen können, sind ja auch ausgesprochen unsicher. Und ich habe jetzt von einem Kollegen, der auch viel mit diskutiert, Herr Kappler, gehört, na ja, man rechnet – und das würde ich auch schätzen – mal mit etwa 30.000 Menschen, die berechtigt und auch mit Aussicht auf Erfolg diese Forderung geltend machen können. Dann wären wir in der Summe bei etwa 1,5 bis 1,8 Milliarden.

Scholl: Wer würde das denn überhaupt bezahlen, Herr Schrapper?

Schrapper: Ich wollte gerade sagen, also zuerst mal die Summe muss man sich auf der Zunge zergehen lassen, auch in der öffentlichen Debatte angesichts der Haushaltslage und der Spardiskurse, die allenthalben auch geführt werden, insbesondere eben vom Bund und von den Ländern und den Kommunen – 1,8 Milliarden, das ist dann in der Summe schon ein erheblicher Betrag. Wer soll das bezahlen? Bezahlen werden es, wenn sie es bezahlen müssen, die Länder an erster Stelle. Sie waren zuständig für die Ausgestaltung, für die Aufsicht und für die Durchführung der Heim- und Fürsorgeerziehung, um die es hier geht. Bezahlen werden müssen aber auch die Kommunen. Kein Kind kam ins Heim oder in eine Fürsorgeanstalt, ohne dass eine kommunale Fürsorgerin oder ein kommunaler Fürsorger daran maßgeblich beteiligt war. Und zahlen werden müssen die Kirchen – über 70 Prozent der Einrichtungen, um die es hier geht, waren in kirchlicher Trägerschaft. Und nicht zuletzt wird es Forderungen geben an Wirtschaftsunternehmen – nicht unerheblich ist in diesen Einrichtungen auch von Wirtschaftsunternehmen Arbeit erledigt worden, Arbeit dort gemacht worden und in keiner Weise angemessen bezahlt. Also das sind aus meiner Sicht die vier gesellschaftlichen Gruppen, öffentlichen Träger, die angesprochen sind, wenn es um die Finanzierung geht.

Scholl: Der Runde Tisch um das Leid der ehemaligen Heimkinder. Das war der Pädagoge Christian Schrapper. Er nimmt am Runden Tisch teil. Herr Schrapper, wir werden uns vielleicht im Dezember wieder sprechen, wenn denn wirklich der Abschlussbericht vorliegt und die Ergebnisse offiziell präsentiert werden. Ich danke Ihnen für das Gespräch!

Schrapper: Gerne! Wiederhören!
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