Vor allem eine erschöpfende Materialsammlung

10.09.2013
Erschöpfung, das ist für den Literaturwissenschaftler Wolfgang Martynkewicz Ausdruck der Überforderung des Menschen durch die Moderne. Seine Studie befasst sich demnach nicht mit dem Burnout der Gegenwart, sondern mit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Einige Fragen lässt er aber offen.
Bei einem Titel wie "Das Zeitalter der Erschöpfung" denkt man selbstverständlich sofort, dass damit die Gegenwart gemeint sei. Der Begriff der Erschöpfung steht schließlich derzeit hoch im Kurs. Man denke an die Karriere des Begriffs Burnout oder an die vieldiskutierte Studie des Philosophen Byung-Chul Han von der "Müdigkeitsgesellschaft". Ausgebrannt, müde, erschöpft zu sein – das ist ein oft verwendetes Beschreibungsmuster unseres Zeitalters.

So gibt es einen nicht geringen Überraschungseffekt, wenn man die umfangreiche Studie "Das Zeitalter der Erschöpfung", die der Literaturwissenschaftler Wolfgang Martynkewicz soeben vorgelegt hat, zum ersten Mal aufschlägt. Er beschäftigt sich nämlich vornehmlich mit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Erschöpfung, das ist für Martynkewicz Ausdruck der Überforderung des Menschen durch die Moderne.

In der Studie widmet er sich den Folgerungen für das menschliche Selbstverständnis, die sich daraus in dem Moment ergeben haben, als sich die Moderne endgültig gesellschaftlich und kulturell durchgesetzt hat, um 1900 also. Eine kleine narzisstische Kränkung kann sich beim Lesen durchaus einstellen: Ihre Erschöpftheitsgefühle hat die Gegenwart keineswegs exklusiv; sie begleiten die Menschheit bereits seit über hundert Jahren.

Die Stärken dieses Buches liegen in der Fülle des in ihm angehäuften Materials. Martynkewicz ist ein fleißiger Leser, und er streut seine dabei gewonnenen Einsichten breit aus. So erfahren wir von Bismarcks Erschöpfungszuständen und Max Webers Depressionen; von Kafkas Versuchen, sich durch Körperertüchtigung gegen die Erschlaffung zu schützen; von der um 1900 modischen Hoffnung nach Auffrischung erschöpfter spiritueller Energien durch Anleihen bei fernöstlichen Philosophien; von Thomas Manns Ansätzen zwischen Dekadenz und Arbeitsethik, von Freud, Musil, Sombart, Adler und und und.

Das alles ist beeindruckend, und es fallen immer wieder interessante Zitate und Details ab. Nietzsches Einsicht etwa: "Die Erschöpfung der Gesellschaft ist dort am größten, wo am unsinnigsten gearbeitet wird." Aber irgendwann beginnt man sich zu fragen, wie nun diese einzelnen Beobachtungen zusammenhängen sollen.

Die Antwort bleibt Martynkewicz ein Stück weit schuldig. Die Schwächen des Buches liegen in der Deutung. Martynkewicz, der 2009 mit seinem Buch "Salon Deutschland. Kunst und Macht 1900–1945" bekannt wurde, addiert seine Punkte eher, als dass er sie systematisieren oder in die Tiefe gehend interpretieren würde. Was haben die Erschöpfungszustände nun genau mit den gesellschaftlichen Veränderungen zu tun? Wie ließen sich reaktionäre Deutungen, die wie bei Oswald Spengler aus der allgemeinen Müdigkeit auf den Untergang des Abendlandes schlossen, von vorwärtsgewandten Interpretationen unterscheiden, die die Erschöpfung mildern wollten, indem sie die Lebensverhältnisse ändern wollten? Und vor allem: Wie unterscheiden sich die damaligen Deutungen der Erschöpfung von aktuellen Analysen?

Gerade die letzte Frage ist wichtig. Denn von der allgemeinen Erschöpfung um 1900 ging es ziemlich schnell in den Ersten Weltkrieg, mit allen bekannten Folgen. Man kann nur hoffen, dass wir inzwischen gelernt haben, Erschöpfungen besser zu verarbeiten. Wolfgang Martynkewicz lässt einen mit seiner erschöpfenden Materialsammlung bei dieser Frage aber leider ratlos zurück.

Besprochen von Dirk Knipphals

Wolfgang Martynkewicz: Das Zeitalter der Erschöpfung
Aufbau Verlag, Berlin 2013
428 Seiten, 26,99 Euro
Mehr zum Thema