Vor 50 Jahren starb Helen Keller

Die Schriftstellerin, die sprechen lernte

Helen Keller (r) "liest" durch Berührung die Lippen von Eleanore Roosevelt bei einem Treffen in New York 1955
Helen Keller (r) "liest" durch Berührung die Lippen von Eleanore Roosevelt bei einem Treffen in New York 1955 © picture-alliance / dpa
Von Martin Tschechne · 01.06.2018
Die Amerikanerin Helen Keller verlor als Kleinkind ihr Augenlicht und ihr Gehör. Dennoch wurde sie mit ihren Büchern und Vortragsreisen zu einem Vorbild für Millionen von Blinden und Gehörlosen. Sie starb am 1. Juni 1968.
"It is not blindness or deafness that brings me my darkest hours. It is acute disappointment in not being able to speak normally."
Eine Frau spricht. Mühsam und stockend beklagt sie ihr Los, nicht wie andere hören und sprechen zu können. Die Amerikanerin Helen Keller, geboren 1880 in Tuscumbia/Alabama, hatte nach einer Hirnhautentzündung mit anderthalb Jahren ihr Gehör und den Gesichtssinn verloren. Sie war taub und blind.
Helen Keller erlangte sogar den Doktortitel
Und dennoch gelang es ihr, sich mitzuteilen. Sie lernte, sich mit Zeichen zu verständigen, die sie anderen mit den Fingerspitzen in die Handflächen tippte und so auch selbst entziffern konnte. Sie beherrschte vier Alphabete, die Braille-Schrift für Blinde; konnte Schreibmaschine schreiben, schrieb Bücher über ihr Schicksal und über den Weg hinaus; sie reiste um die Welt, nach Australien, nach Indien, um sich für die Förderung von Behinderten und für die Rechte politisch Verfolgter einzusetzen. Sie ging an die Universität, lernte Fremdsprachen, Deutsch und Französisch, war die erste taubblinde Frau, die einen Titel als Bachelor erwarb. Sie erlangte sogar den Doktortitel.
Helen war sieben Jahre alt, als ihr unter einer Pumpe im Garten kaltes Wasser über die Hände lief und ihre Hauslehrerin ihr dazu die Zeichen für "Wasser" in die Hand buchstabierte. Da begriff das Mädchen, dass sie sich trotz aller Behinderung mit Hilfe der Sprache die Welt erschließen konnte.
"Ich wusste jetzt, dass 'Wasser' jenes wundervolle, kühle Etwas bedeutete, das über meine Hand strömte. Dieses lebendige Wort erweckte meine Seele zum Leben, spendete Licht, Hoffnung, Freude, befreite sie von ihren Fesseln. Jedes Ding hatte einen Namen, und jeder Name weckte einen neuen Gedanken. Als wir ins Haus zurückkehrten, schien mir jeder Gegenstand von verhaltenem Leben zu zittern."
"Ja, vielleicht…, vielleicht kann man sagen, sie war hochbegabt", sagt also der Psychologe Helmut Lück. Aber Neugier und Begabung des Mädchens sind für den Spezialisten für die Geschichte seiner Disziplin nur die eine Hälfte der Wahrheit. Die andere liegt in der Methode. Bislang nämlich waren Gehörlose nur über abstrakte Zeichen an eine Sprache herangeführt worden.
Schrittweise Befreiung aus dem Dunkel
"Und nun bei Helen Keller war das völlig anders. Das lag an der Anny Sullivan, der Lehrerin, die es geschafft hatte, einen viel besseren Zugang zu der Helen Keller zu finden – nämlich: die Entwicklung im Sprachverhalten so mit anzutreiben, anzufeuern, wie man es bei normalen Kindern eigentlich intuitiv immer macht und immer richtig macht. Nämlich die Gegenstände zu benennen, Ein-Wort-Sätze zu hören und dann erst auf weitere Stufen der Sprachentwicklung vorzustoßen. Bis hin zur Bildung von Vergangenheit, Zukunft, Möglichkeitsform und so weiter."
Und während Helen Keller sich mit Hilfe ihrer Lehrerin Anne Sullivan Schritt für Schritt aus dem Dunkel befreite, wurde das Wunder öffentlich. Zeitungen beschrieben ihr Schicksal, Filme wurde gedreht. Auch der deutsche Psychologe William Stern besuchte sie in ihrem Haus bei Boston, stellte zunächst nur Fragen und ließ sich Antworten übersetzen. Dann setzte er sich ans Klavier, und Helen Keller legte ihre Hand auf dessen Deckel.
"Und nun kam Teil zwei des Experimentes; William Stern schreibt: Sodann spielte ich den Donauwalzer von Strauß. Und hier zeigte sich eine merkwürdige Wirkung: Helen Keller geriet in offensichtliche Erregung; der ganze Körper begann zu vibrieren und sich zu wiegen. Auch das Mienenspiel verriet starken, lustvollen Affekt. Diese Ausdrucksbewegung war von so elementarer Gewalt, dass eine nur eingeredete Freude gänzlich ausgeschlossen ist."
Und dann sprach sie. Mit den Fingerspitzen an den Lippen und am Kehlkopf ihrer Lehrerin gelang es ihr, die erlösenden Worte nachzusprechen: Ich bin nicht mehr stumm.
"I am not dumb now."
Am 1. Juni 1968 starb Helen Keller im Alter von 88 Jahren. Ihr Lebensmut war für Millionen von Blinden und Gehörlosen ein Beispiel.
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