Vor 100 Jahren uraufgeführt

Die wechselvolle Geschichte von Goethes "Urfaust"

"Goethe in der Campagna", das bekannteste Gemälde von Johann Heinrich Wilhelm Tischbein zeigt den Dichter Johann Wolfgang von Goethe.
"Goethe in der Campagna", das bekannteste Gemälde von Johann Heinrich Wilhelm Tischbein zeigt den Dichter Johann Wolfgang von Goethe. © imago/United Archives International
Von Cornelie Ueding · 08.05.2018
Jahrzehntelang galt der Text von Goethes "Urfaust" als verloren, bevor er 1887 im Nachlass einer Weimarer Hofdame als Kopie gefunden wurde – um sogleich wieder zu verschwinden. Erst am 8. Mai 1918 konnte der "Urfaust" in Frankfurt am Main uraufgeführt werden.
"Ich glaube, dass gerade der Urfaust das Stück ist von Goethe, das man am wenigsten manipulieren muss. Das heißt, es ist das weitaus kühnste Stück, das ist weitaus dichterisch stärker als der spätere Faust."
Das sagte kein Geringerer als Friedrich Dürrenmatt anlässlich seiner Zürcher Inszenierung des Urfaust. Und der erfahrene Dramatiker hat natürlich recht. Was die Dichte und Direktheit seiner Dramatik betrifft, ist der "Urfaust" erfrischend unmittelbar und im Vergleich zu den späteren Fassungen schlicht, fast puristisch. Ganz im Gegensatz zu seiner extrem verwirrenden, widersprüchlichen Überlieferungsgeschichte, an der Goethe selbst großen Anteil hatte. 1829 bekennt er in einem Gespräch mit Eckermann:
"Der Faust entstand mit meinem Werther; ich brachte ihn im Jahre 1775 mit nach Weimar. Ich hatte ihn auf Postpapier geschrieben und nichts daran gestrichen; denn ich hütete mich, eine Zeile niederzuschreiben, die nicht bestehen konnte."

Für Jahre verschollen

Gut 30 Jahre später erschien "Faust I". Aber der Text des "Urfaust" ging für Jahrzehnte unter, bevor er 1887 im Nachlass einer Weimarer Hofdame als Kopie gefunden wurde - um sogleich wieder zu verschwinden. Erst am 8. Mai 1918 konnte der "Urfaust" in Frankfurt uraufgeführt werden. Man fragt sich, weshalb all diese Mystifikationen und Geheimniskrämereien? Ist der Fauststoff wirklich so brisant? Brecht hat da so seine Zweifel – wittert aber auch das Prekäre daran.
"Im Grunde genommen ist es die Liebesgeschichte eines Intellektuellen mit einer Kleinbürgerin. Das muss ja mit dem Teufel zugegangen sein."
Und das mit dem einzigen Ziel, eine Minderjährige zu verführen. Denn, mit Verlaub, um sehr viel mehr geht es im Kern dieses literarischen Heiligtums - zumindest im "Urfaust" - nicht. Alle späteren Verklammerungen, alles Dekor, das Vorspiel im Himmel, der Teufelspakt, nicht zuletzt die philosophische Aufladung, die die Nachwelt dem "Faust" zuteil werden ließ, fehlten gottlob noch. Der deutsche Schauspieler und Regisseur Helmut Griem hat nicht ganz unrecht, wenn er glaubt,
"Daß der Faust mit der Grundkomponente des hehren deutschen Denkers nichts zu tun hat und daß man diese Figur nicht aus einer philosophisch bedeutsamen Grundhaltung heraus erwischen kann. Das macht dem deutschen Bildungsbürger mit seiner Sucht, die hehren Werte zu erhalten, Probleme."

Kleinbürgerlicher Mut und Hochmut

Der junge Goethe muss geahnt haben, dass speziell die Weimarer Bildungsbürger des späten 18. Jahrhunderts mit dem Stück, besonders in seiner kruden Urform, so ihre Probleme haben könnten: ein "Faust", noch ganz ohne Stimmen von oben und ohne rettende Engelschöre. Doch mit viel kleinbürgerlichem Mief und intellektuellem Hochmut. Dazu die Skrupellosigkeit und Bigotterie der sogenannten aufgeklärten Gesellschaft, die ein verzweifeltes junges Mädchen als Kindsmörderin verurteilte und aufs Schafott schickte – ein authentischer Fall, der Goethe tief erschütterte. Die grausame Kerkerszene endet schroff und ohne versöhnliche Stimmen von oben. Über der armen Sünderin wird der Gerichtsstab gebrochen, mit einem harten "Krack, das Stäbchen bricht." Dann verschwindet Faust an der Seite Mephistos, die Kerkertür rasselt und der letzte Hilferuf Gretchens verhallt ungehört:
"Leb wohl Heinrich."
"Ich lasse dich nicht!"
"Der heilige Engel bewacht meine Seele."
"Sie ist gerichtet!"Heinrich … Heinrich."
Es klingt wenig überzeugend, dass Goethe ausgerechnet den genialen Auftakt zu seinem Faust-Projekt vernichtet haben soll, wie oft zu lesen ist. Warum hätte er die Blaupause für sein Lebenswerk, den "Faust", der ihn 60 Jahre beschäftigen sollte, zerstören sollen? Es hat doch genügt, den Text einfach verschwinden zu lassen - und im Geheimen unablässig bis zu seinem Tod verbissen daran weiterzuarbeiten.
Goethe hat sich immer gegen abstrakte Zuschreibungen gewehrt. Vergeblich, wie man weiß:
"Da kommen sie und fragen, welche Idee ich in meinem ›Faust‹ zu verkörpern gesucht. Als ob ich das selber wüßte und aussprechen könnte! Die Deutschen sind ... wunderliche Leute! Sie machen sich durch ihre tiefen Gedanken und Ideen, die sie überall suchen und überall hineinlegen, das Leben schwerer als billig. - ... so habt doch endlich einmal die Courage, euch den Eindrücken hinzugeben, euch ergötzen zu lassen, euch rühren zu lassen, euch erheben zu lassen, ja euch belehren und zu etwas Großem entflammen und ermutigen zu lassen – aber denkt nur nicht immer, es wäre alles eitel, wenn es nicht irgend abstrakter Gedanke und Idee wäre!"
Nun, hätte er den "Urfaust", nackt und ohne Bildungsverhüllung, 1775 publiziert, statt ihn vor sich und der Welt zu verbergen, wer weiß, es wäre vielleicht anders gekommen und Goethe wäre nicht der Halbgott von Weimar geworden. Aber Goethe ohne Weimar – Weimar ohne Goethe – unvorstellbar.
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