Von Träumen und der Liebe

Rezensiert von Maike Albath · 03.01.2006
Vincenzo Consolo schildert in "Retablo" die Bildungsreise eines adligen Mailiänders mit Liebeskummer. Der feingesponnene Roman, der in Italien bereits 1987 erschien, bietet einen geistreich-humorvollen Kommentar zu dem, was die Liebe mit dem Menschen anstellt.
Don Fabrizio Clerici, ein adliger Mailänder mit Liebeskummer, schifft sich im späten 18. Jahrhundert nach Palermo ein und tritt mit Malkasten und einschlägiger Literatur im Gepäck - darunter ein gewisser Winckelmano - eine klassische Bildungsreise an. Weil die Dame seines Herzens, Teresa Blasco, eine tatsächlich existierende historische Figur, die Großmutter Alessandro Manzonis, ohnehin einen anderen erhören wird, will er nicht länger in ihrer Nähe verweilen. Dennoch widmet er ihr sein Reisetagebuch und schildert der fernen Freundin die klassischen Stationen der Grand Tour: Auf Palermo und Monreale folgen Segest und Segunt, auch in Trapani und Marsala wird Halt gemacht. Don Fabrizio, als Mailänder auf Sizilien ein Fremder, wird begleitet von dem getreuen Isidoro, einem flüchtigen Bettelmönch, ebenfalls gebeutelt von Herzleid. Gemeinsam durchlebt das ungleiche Paar etliche Abenteuer: Sie lernen einen prunksüchtigen Fürsten mit einer Vorliebe für Preisfragen kennen, müssen sich einer Schar von Briganten erwehren und Strauchdiebe und Wegelagerer in die Flucht schlagen, sie vermeinen, an einer bestimmten Meerenge den Gesang der Sirenen zu hören, dem schon Odysseus erlag, bis sie schließlich sogar Zeugen eines Erdbebens werden.

Der Titel des feingesponnenen Romans ist Programm: Wie ein "Retablo", ein Tafelbild, setzt sich das erzählerische Gewebe aus mehreren Teilen zusammen, die nebeneinander stehen, aber auf verschiedenen Ebenen miteinander korrespondieren. So beginnt der Roman mit einer Liebesklage von Isidoro, denn seine angebetete Rosalia ist ihm abhanden gekommen und scheint sich für einen anderen Mann entschieden zu haben, weil Isidoro nicht genügend Geld für eine Eheschließung aufbringen konnte und zu allem Überfluss Ablassgelder aus seinem Kloster veruntreut hat. Niedergeschmettert begibt sich der Liebeskranke an den Hafen und wird von einem edlen Reisenden als Begleiter auserkoren - Don Fabrizio Clerici. An Isidoros in einem mündlichen Erzählstil gehaltene Rede schließt das Tagebuch des Adligen an. Hier bedient sich Vincenzo Consolo einer archaisierenden Erzählweise, die von Maria E. Brunner auch im Deutschen äußerst gelungen reproduziert wird: ein barocker Tonfall mit etwas umständlichen Ausdrucksformen, gleichwohl farbig und eingängig. Unterbrochen wird der Reisebericht durch das in Kursivschrift gehaltene Sündenbekenntnis eben jener abtrünnigen Rosalia, auch sie hat einen eigenen Jargon, geprägt durch ihren Herkunft und ihren Gesellschaftsstand. Eine Erklärung für die überraschende Unterbrechung des Textflusses liefert uns Don Fabrizio selbst, denn Briganten stahlen ihm sein ganzes Papier, woraufhin er sich mit bereits einseitig beschriebenen Unterlagen aus einem Kloster behelfen muss. Auf diese Weise haben wir es wie bei einem Triptychon mit einrahmenden Geschichten zu tun: Isodoros und Rosalias Geständnisse umkränzen die Haupthandlung der Reise durch Sizilien.

"Retablo" ist einem barocken Spiegelspiel nachgebildet und doch vom Geist der Aufklärung durchdrungen. Denn Don Fabrizio Clerici neigt nicht zu einer mythischen Erhöhung Siziliens, sondern erkennt die Insel in ihrer Tiefenstruktur. Zugleich liefert Consolo mit seinem dreistimmigen Romangebilde, das in Italien bereits 1987 erschien, eine geistreich-humorvollen Kommentar dessen, was die Liebe mit dem Menschen anstellt. Und wie in anderen Romanen Consolos geht es nicht zuletzt um eine Reise und damit um die Variation eines klassischen sizilianischen Motivs: nämlich das der Rückkehr nach Sizilien. Consolo, der wie die Mehrzahl der sizilianischen Schriftsteller seine Insel verließ - von Verga über Pirandello bis zu Vittorini war das eine gängige Praxis - und seit Jahrzehnten in Mailand lebt, aber beständig zwischen Palermo und der lombardischen Metropole unterwegs ist, formuliert mit seinem Helden: "Warum reisen wir, warum kommen wir bis zu dieser fernen Insel?... der wahre Grund ist, dass wir unzufrieden sind mit der Zeit sind, in der wir leben... Immer ist das Reisen Abstand... ein Träumen. Noch stärker gleicht dem Träumen jedoch das Schreiben... Und ein Träumen in seiner höchsten Form ist schließlich das Schreiben über eine Reise." Mit "Retablo" gelingt Vincenzo Consolo ein Reisejournal der besonderen Art.


Vincenzo Consolo: Retablo
Aus dem Italienischen von Maria E. Brunner.
Folio Verlag, Wien/Bozen, 2005
160 Seiten, 19,50 Euro