Von Teenagern, die spurlos verschwinden

Von Carolin Fischer · 08.07.2005
Im neuen Buch von Birgit Vanderbeeke verschwinden an ihrem 16. Geburtstag Jugendliche spurlos. Gemeinsam ist den 'Ausreißern', dass sie eher gut in der Schule und mehr oder weniger computerbegeistert waren. Die Autorin wurde unter anderem mit "Alberta empfängt einen Liebhaber" bekannt.
Birgit Vanderbeke ist eine Spezialistin der kleinen, genauer: der mittleren Form, also der Erzählung, die lang genug ist, um ein schmales Buch zu füllen – schmal meist aber nur vom Umfang und nicht vom Inhalt. So gewann sie bereits 1990 mit dem "Muschelessen", ihrer ersten Erzählung, nicht nur den Ingeborg-Bachmann-Preis, sondern auch eine Reihe begeisterter Leser. Die Familie, die komplexen Beziehungen zwischen ihren einzelnen Mitgliedern, hier speziell die Abgrenzung zu einem despotischen Vater, ist ihr Thema, und immer wieder greift Vanderbeke in den verschiedensten Formen darauf zurück. Es geht um vorgeprägte Strukturen im menschlichen Miteinander sowie um die vielfältigen Versuche, sich aus ihnen zu befreien und eigene Formen des Lebens und Zusammenlebens zu entwickeln. So empfindet es die Titelheldin des wunderbaren Textes "Alberta empfängt einen Liebhaber" als unerträgliche Zumutung, täglich das Gurgelgeräusch eines Mannes beim Zähneputzen hören zu müssen.

Vier Jahre zuvor hatte Birgit Vanderbeke 1993 eine andere, scheinbare Selbstverständlichkeit in "Gut genug" entlarvt: Dort stellt die Protagonistin erschreckt fest, dass sie zwar genau weiß, wie frau es anstellt, keine Kinder zu bekommen, über das Gegenteil indes herzlich uninformiert ist. Dass die wesentlichen Probleme mit dem Nachwuchs allerdings erst deutlich später beginnen, nämlich am Übergang zum Erwachsenwerden, zeigt die Autorin in ihrem neusten Buch "Sweet sixteen". Der eigentliche Plot ist schnell erzählt: Genau an ihrem 16. Geburtstag verschwinden ohne jegliche Vorankündigung Jugendliche beiderlei Geschlechts. Sie stammen aus den verschiedensten Teilen Deutschlands, aus der Hauptstadt ebenso wie aus der Provinz, aus traditionellen Elternhäusern, Patchwork- oder zerbrochenen Familien; es trifft prominente Mütter wie allein erziehende Sozialhilfeempfängerinnen.

Gemeinsam ist den 'Ausreißern' nur, dass sie bis zu jenem Tag unauffällig, eher gut in der Schule und mehr oder weniger computerbegeistert waren. Alles beginnt mit Einzelfällen, die erst dann miteinander in Verbindung gebracht werden, als auch der Sohn einer bekannten Fernsehmoderatorin verschwindet – genauso spurlos wie alle anderen auch.

Was alle Eltern neben ihrem Schicksal verbindet, ist ihre vollkommene Verständnislosigkeit, die das eigentliche Thema des Buches ausmacht. Diese illustriert Vanderbeke an einer konzentrierten Personenkonstellation: Die nicht näher definierte Erzählerinstanz im Roman, ein vierzigjähriger gestresster Jungvater, betreibt eine Trendforschungsagentur und versucht gemeinsam mit Saskia, der Praktikantin, am 'Beispiel' von deren fünfzehnjährigem Bruder Josha das Phänomen zu ergründen, das bald immer höhere Wogen schlägt.

Klug hat der Verlag auf eine Gattungsbezeichnung verzichtet, denn am Ende kippt der Text in Richtung Satire und lässt den Leser umso unbefriedigter zurück, als er ihn vorher in seinen Bann gezogen hat. Daran hat die großartige Mischung aus Lakonik und Manierismus einen wesentlichen Anteil, die Vanderbekes Stil kennzeichnet sowie ihre wunderbare Ironie, die dem Buch eine ganz eigene Leichtigkeit verleiht.

Birgit Vanderbeke: Sweet Sixteen. S. Fischer. € 16,90.