Von Schirach: Recht und Moral nicht verwechseln

Ferdinand von Schirach im Gespräch mit Katrin Heise · 24.08.2009
Den Berliner Rechtsanwalt Ferdinand von Schirach plagen keine Gewissensbisse, wenn er brutale Straftäter vor Gericht verteidigt. "Wir sprechen ja auch nicht Gerechtigkeit, sondern Recht." Über einige seiner Fälle hat er nun ein Buch geschrieben.
Katrin Heise: Zufall oder Konsequenz, wie kam’s zu dem Verbrechen? Durch einen ganz gewöhnlichen Einbruch werden schreckliche Foltermorde ausgelöst, oder eine junge Frau ertränkt ihren geliebten Bruder in der Badewanne, ein gut situierter Arzt erschlägt nach 40 Ehejahren seine Frau mit der Gartenaxt. Die Täter, sie saßen alle in der Anwaltspraxis von Ferdinand von Schirach. Ferdinand von Schirach, dessen Großvater Baldur von Schirach war, die in Nürnberg verurteilte NS-Größe. Der Enkel wurde Strafverteidiger, er vertritt Drogendealer und Industrielle, hatte aber auch zum Beispiel Günter Schabowski als Mandanten. Sein Beruf ist es, anderen, also dem Gericht, zu erklären, wie es zu dem Verbrechen kam. Er hat Unschuldige und Schuldige verteidigt und ihre Geschichte zu seinem ersten Buch verarbeitet. "Verbrechen" heißt das Buch ganz schlicht. Ich grüße Sie, Herr von Schirach!

Ferdinand von Schirach: Guten Morgen!

Heise: Ganz schön detailreich zum Teil, ziemlich blutig schildern Sie da so manche Taten. Also ich nehme an, dass das auch das ist, was Sie auf Fotos auf den Schreibtisch bekommen am Ende von oder beziehungsweise am Anfang von Ihrer Arbeit. Können Sie diese Bilder und das, was im Kopf dann auch sofort abläuft, können Sie das immer aushalten?

von Schirach: Ja, bei diesen Obduktionsbildern, das ist sehr merkwürdig. Wenn man die das erste Mal und nur kurz sieht, kriegt man einen wahnsinnigen Schrecken, und der erste Impuls ist, sie wegzuschieben vom Schreibtisch. Und dann passiert etwas sehr Merkwürdiges: Man muss sie lange betrachten, und wenn man sie lange betrachtet, verlieren sie ihren Schrecken und man kann sich damit auseinandersetzen. Das ist eben nicht so wie im Film, wo Sie so eine blutige Leiche irgendwo sehen und dann so einen halben Herzinfarkt bekommen, ich jedenfalls, sondern – es ist ja auch nicht mit Musik unterlegt, Gott sei Dank, diese Bilder – sondern man sieht sie an und versteht, wo ist die Kugel durchgedrungen, das Projektil, wo ist es ein- und ausgedrungen, und man kann sich daraus seine Theorien bilden, also man hält das aus.

Heise: Wie wahr ist das, was wir in dem Buch lesen, oder wie fiktiv ist es denn? Ich meine, Sie unterliegen immerhin der Schweigepflicht.

von Schirach: Ja, also die Essenz ist wahr. Das heißt, wir haben natürlich als Anwälte immer eine Schweigepflicht, wir müssen den Mandanten schützen, wir dürfen nichts über ihn verraten, das ist ein ehernes Geheimnis und das ist ja lange auch erstritten worden, aber die Essenz, also das, was die Mandanten gefühlt haben, das, was sie gesehen haben und so weiter, das stimmt schon vollkommen. Es ist nur immer etwas anders zusammengesetzt, um sie zu schützen.

Heise: Das, was die Mandanten gefühlt haben, haben Sie jetzt gerade gesagt. Wenn man Ihre Geschichten liest – also bei manchen ist es jedenfalls so –, da kommen Sie diesen Mandanten, diesen Menschen, mit den literarischen Mitteln so nahe, dass man zum Teil fast Verständnis für die Täter hat. Ist Ihnen das auch manchmal so gegangen?

von Schirach: Ja, also nicht, dass ich alles verstehe, was sie dort machen, also verstehen im Sinne von richtig finden, sondern es ist so, dass man begreifen muss, wie es zu bestimmten Taten gekommen ist. Und das kann man literarisch dadurch erreichen, dass man die Bilder einfach einzeln hintereinanderschaltet, nämlich genau so, wie er das gesehen hat oder wie sie das gesehen hat und wie sie das erlebt hat. Und dadurch kommt natürlich immer ein gewisses Verständnis zustande, klar.

Heise: Aber ich meine jetzt auch so, wenn Sie den Menschen gegenübersitzen, Verständnis und gleichzeitig sind da zum Teil fürchterliche Verbrechen begangen worden. Wie weit reicht diese Empathie da auch?

von Schirach: Also das Verhältnis zwischen einem Anwalt und einem Mandanten ist immer von großer Distanz geprägt, man ist nicht der Freund des Mandanten und man klopft ihm nicht auf die Schulter und sagt, na, war alles nicht so schlimm, oder so etwas, sondern man steht ihm relativ distanziert gegenüber, man überlegt, was er erlebt hat und wie man das in einem Prozess vortragen kann. In der Schweiz heißen ja Anwälte Fürsprecher, und genau das macht man auch. Man versucht rauszubekommen, was war da eigentlich los und wie kann man es später vermitteln.

Heise: Sie schildern Fälle – Sie haben sie dann ja auch gehabt –, da wissen Sie, dass mit Ihrer Hilfe die Wahrheit nicht ans Licht kommt, die Wahrheit, die da ja vielleicht noch irgendwie aufgedeckt werden sollte. Macht Ihnen das eigentlich ein moralisches Problem?

von Schirach: Nein, überhaupt nicht. Das ist ein System. Also Justiz ist ein System, jeder hat in diesem System seine Aufgabe, und ich nehme die Aufgabe wahr, die mir das Gesetz zuweist. Und wir haben ja bei Gericht überhaupt keine Wahrheit am Schluss, wir sprechen ja auch nicht Gerechtigkeit, sondern Recht. Und das, was wir als Wahrheit in einem Prozess erleben, ist nur die Wahrheit, die mit strafprozessualen Mitteln zustande gekommen ist. Das klingt jetzt fürchterlich kompliziert, ist aber ganz einfach. Stellen Sie sich vor, ein Mann telefoniert mit einem Freund und spricht auf dessen Anrufbeantworter oder spricht mit dem am Telefon und sagt: Ich hab sie umgebracht. Und später stellen wir fest, dass der Beschluss des Richters, der die Überwachung dieses Telefons erlaubt, erst 20 Minuten später ergangen ist, also können wir das nicht verwerten. Das klingt total merkwürdig, schützt uns aber am Schluss alle.

Heise: Zum Teil macht’s einen aber auch wütend. Weil man dann denkt, also zum Beispiel, Sie schildern eine Geschichte, da setzen Sie das Schweigen als Anwalt, Ihre Schweigepflicht als Anwalt darüber, vielleicht ein Verbrechen verhindern zu können: Ein Mandant, psychisch krank, Sie sagen ihm, begeben Sie sich in Behandlung, er tut es aber nicht, und Sie können nichts weiter machen. Jahre später erfahren Sie, dass er tatsächlich einen Mord begangen hat.

von Schirach: Ja, schrecklich. Aber das sind moralische Kategorien, nicht rechtliche. Und wir dürfen das sozusagen nicht vermengen und verwechseln. Wenn wir Verteidiger im Gericht als Pfarrer auftreten würden, dann würden wir in kürzester Zeit ein Rechtssystem haben, in dem wir alle nicht mehr leben wollen. Das heißt, man muss das einfach so streng voneinander trennen.

Heise: In diesem Buch, da wenden Sie sich natürlich an Menschen, die jetzt eben diesem, ja, die das ganz anders lesen und die genau diese moralischen Fragen dann stellen. Das wollten Sie auch?

von Schirach: Das wollte ich auch, und ich hab natürlich keine Mission, ich will in erster Linie unterhalten. Missionen müssen solche Leute wie Horst Schlämmer haben. Aber es geht so in erster Linie da drum, dass man das liest und sich so ein bisschen vorstellen kann, wie denkt so ein Täter, was führt eigentlich zu einer Tat, und nicht nur so eine einzelne Meldung in einer Boulevardzeitung lesen, sondern die Geschichte dahinter.

Heise: Sagt Ferdinand von Schirach, bekannter Strafverteidiger in Berlin. Er hat einige seiner Fälle zu Kurzgeschichten verarbeitet und ist Gast im Deutschlandradio Kultur. Sie haben jetzt eben gerade das angesprochen, wie kam es eigentlich zu einer Tat? Ihre Mandanten kommen aus allen gesellschaftlichen Schichten, das sind Industrielle, das sind Gutbürgerliche, es sind Prostituierte, es sind Drogenhändler. Wenn man jetzt diese verschiedenen Lebensläufe dann auch so sieht, wie oft geschehen eigentlich Verbrechen zwangsläufig, aus dem Leben heraus, wie oft sind’s aber auch Zufälle?

von Schirach: Also ich glaube, so meiner Erfahrung nach, ich mach das jetzt schon ziemlich lange, ist es so, dass fast alle Taten eine Geschichte haben. Also die Zufallstat, dass jemand jemand anderen einfach so umbringt, im Park erschlägt, weil er gerade Lust dazu hat, das gibt es sehr selten. Das passiert meistens in Filmen, aber nicht im wirklichen Leben, und deswegen haben wir ja übrigens auch eine so hohe Aufklärungsquote, weil wir das nachvollziehen können. Jedes oder fast jedes Verbrechen hat eine Geschichte, und es ist auch so, dass die Geschichte die Tat gebiert erst. Also erst haben wir eine Geschichte, dann haben wir die Tat, und es nicht aus dem Nichts heraus oder fast nie aus dem Nichts heraus.

Heise: Gerade die Zwangsläufigkeit in dem Leben, also wenn man jetzt so zum Beispiel die Geschichten, wo es um Prostituierte geht, wo es um Menschen geht, die so am Rande stehen, das macht einen dann oft so traurig, dass das da irgendwie offenbar auf diesem Einbahnstraßenweg in dem Leben wirklich keine Abzweigung gab, wo man hätte dieses Verbrechen am Ende verhindern können. Was macht das mit Ihnen? Sie haben von der Distanz gesprochen, hat man die tatsächlich dann immer oder tut Ihnen manchmal ein Mandant auch einfach leid?

von Schirach: Man zwingt sich zu der Distanz, weil man, wenn man emotional zu sehr engagiert ist, einfach schlecht verteidigt. Man verteidigt auch keine Familienangehörige oder Freunde oder gute Bekannte, sondern man verteidigt einfach, also man macht alles falsch, wenn man zu sehr engagiert ist, also zu sehr emotional engagiert ist. Man muss die Emotionen steuern, also auch bei sich ein bisschen, und man kann sich viel mehr darüber aufregen, dass ein Richter dann gerade irgendetwas falsch macht oder dass ein Staatsanwalt irgendeinen Antrag stellt, den man absurd findet. Dagegen kann man dann vorgehen. Aber wenn man sich zu sehr gemein macht mit seinem Mandanten, ist man verloren.

Heise: Gibt es Verbrechen, die Sie nicht verteidigen würden?

von Schirach: Ja, eine ganze Menge Sachen. Also ich kann, glaube ich, überhaupt nichts verteidigen, was mit Kindesmissbrauch und solchen Dingen zu tun hat. Auch diese Leute haben einen Anspruch auf einen Verteidiger, aber das muss dann nicht unbedingt ich sein.

Heise: Gibt es so einen Impuls bei Ihnen, der Ihnen sagt, den will ich verteidigen oder da bin ich gefragt?

von Schirach: Ja, das gibt es sehr oft. Also es gibt Leute, und zwar vollkommen egal, ob das jetzt ein sehr reicher oder ein sehr armer Mensch ist, deren Geschichte einen interessiert oder mich interessiert und wo ich sage, das ist zu berührend, damit muss man irgendetwas anfangen und dem muss man helfen. Oder dann gibt es wieder Mandanten, die man so unsympathisch findet, dass man sagt, dass man am Nachmittag jetzt keine Zeit mehr hat.

Heise: Und da kann es dann darum gehen, dass einer Reißnägel versteckt in Schuhen anderer Menschen, so einen Fall haben Sie übernommen, jedenfalls schildern Sie ihn, oder es kann auch um Mord gehen, so groß ist die Bandbreite. Was halten Sie eigentlich von Strafe, gibt’s die gerechte Strafe?

von Schirach: Das ist eine wirklich gute Frage und wahnsinnig schwer zu beantworten. Ich weiß nicht, ob man eine gerechte Strafe finden kann. Was man finden kann, ist eine schuldangemessene Strafe. Wenn man sich überlegt, was Schuld sein soll, kommt es zu der nächsten Frage. Also es ist sehr kompliziert. Aber wir müssen strafen, es bleibt uns ja nichts anderes übrig. Wir haben 5000 Jahre überlegt und haben nichts anderes gefunden.

Heise: Sagt Ferdinand von Schirach. Er ist Anwalt und Strafverteidiger, und über die Verbrechen, mit denen er so zu tun hat, hat er Kurzgeschichten geschrieben in seinem Buch "Verbrechen". Er war mein Gast hier im "Radiofeuilleton". Ich danke Ihnen recht herzlich für Ihren Besuch, Herr von Schirach!

von Schirach: Vielen Dank!