"Von Manipulation der Sprache kann keine Rede sein"

Moderation: Holger Hettinger · 24.07.2006
Ab dem 1. August sind die Regelungen zur Rechtschreibreform endgültig in Kraft. Doch Kritiker monieren, dass von einer einheitlichen Rechtschreibung keine Rede sein könne, da unterschiedliche Schreibvarianten empfohlen werden, so auch im jetzt neu erschienen Duden. Die Geschäftsführerin des Rates für Deutsche Rechtschreibung, Kerstin Güthert, mahnte im Deutschlandradio Kultur hingegen zu mehr Gelassenheit.
Hettinger: Seit dem Wochenende ist der neue Duden im Handel: 130.000 Stichwörter sind hier gelistet, mitsamt Angaben zur Worttrennung – das Standardwerk zur deutschen Rechtschreibung, wie sie ab dem 1. August verbindlich sein wird. Jetzt ist alles wieder gut, mag man meinen, die langen, quälenden Auseinandersetzungen der letzten Jahre sind passé. Allerdings ist die neue Regelung ein Kompromiss, der auf Kosten der Einheitlichkeit erlangt wurde. Es gibt etliche Fälle, da muss der Schreibende selbst entscheiden, welche von zwei zulässigen Schreibungen er wählt. Die aktuelle Auflage des Duden gibt Empfehlungen, indem er die favorisierte Variante gelb unterlegt. Oft betrifft das die Frage Getrennt- oder Zusammenschreibung, ebenso Groß- und Kleinschreibung.

Alles paletti? Keineswegs. Der Erlanger Sprachwissenschaftler Theodor Ickler hat die Empfehlungen von Duden und dem Konkurrenzwörterbuch "Wahrig" verglichen und kommt zu dem Schluss: Statt klarer Antworten bietet das Wörterbuch zahllose Varianten und Widersprüche. Klärung oder Verwirrung - was leistet der neue Rechtschreibduden? Darüber sprechen wir nun mit Kerstin Güthert, der Geschäftsführerin des Rates für deutsche Rechtschreibung. Ich grüße Sie.

Güthert: Ich grüße Sie auch.

Hettinger: Frau Güthert, Theodor Ickler schreibt in der "FAZ", dass die mühevolle Arbeit Ihrer Institution umsonst gewesen sei, weil der neue Duden mit zweifelhaften Empfehlungen keine Klarheit schafft, sondern zur Verwirrung beiträgt. Hat er Recht?

Güthert: Nein, überhaupt nicht. Denn man muss zum einen sehen, dass der Duden nicht das einzige Wörterbuch ist. Es gibt daneben zum Beispiel den "Wahrig", der mindestens genauso groß ist. Und zum anderen muss man sagen, dass die Menschen nach gut zehn Jahren Reformdebatte doch sehr stark sensibilisiert sind und auch nicht einfach das nehmen, was einem geboten wird, sondern das kritisch hinterfragen. Das hat man zum Beispiel schon gesehen am Wochenende, wie die "SZ" sagt in einer Rezension: Ja, in manchen Fällen könnte man dem Duden folgen, aber in anderen, gerade im Bereich der Getrennt- und Zusammenschreibung, würde man das nicht machen. Also insofern ist alles offen.

Hettinger: Aber dass "alles offen" ist, ist ja anscheinend auch das Problem. Man kann einfach mal ein bisschen ins Detail gehen. Die Rechtschreibung lässt Varianten zu. Das Wort zum Beispiel "allgemeinverständlich" kann man getrennt oder zusammen schreiben, beides richtig. Theodor Ickler hat den neuen Duden ebenso wie den neuen "Wahrig" auf Inkonsequenzen hin untersucht und sein Ergebnis ist: Der Duden bevorzugt oft andere Varianten als der "Wahrig" - "allgemeinverständlich" zusammen, "Wahrig" sagt "allgemein verständlich" getrennt. Und Theodor Ickler hat in seinem Artikel eine ganz lange Liste von Wörtern erstellt, bei denen die Empfehlungen von Duden und "Wahrig" voneinander abweichen. Von Einheit der deutschen Rechtschreibung kann man doch da nicht mehr reden?

Güthert: Doch, kann man allerdings. Denn diese Liste ist stark missverständlich. Also zum einen sprechen wir hier davon, dass hier die Empfehlungen anders sind. Es sind also keine Widersprüche in der Auslegung der Regeln. In beiden Wörterbüchern bekommt der Benutzer beide Schreibweisen auch dargestellt - einmal empfiehlt der "Wahrig" das eine, einmal der Duden das andere. Nun ist aber Folgendes - Theodor Ickler müsste es selbst am besten wissen: Der "Wahrig" bringt nur in sehr wenigen Fällen überhaupt Empfehlungen, nämlich insgesamt in 18 Fällen von gut 120.000 Stichwörtern weicht das überhaupt ab. Also es sind - ich habe das geschaut -, also 52 Fälle bringt er insgesamt von 120.000 Stichwörtern und wenn man die abgleicht mit dem Duden, merkt man: In 18 Fällen unterscheidet der sich dann. Das heißt, das ist hier absolut zu hoch gehängt.

Hettinger: Theodor Ickler geht noch weiter. Er behauptet, der Duden sei für die Schule ungeeignet. Das Argument, das er bringt, ist: Die Kultusministerkonferenz hat beschlossen, dass Lehrer ihren Schülern ein Jahr lang keine Fehler dafür anrechnen dürfen, wenn sie die Rechtschreibung verwenden, die sie seit zehn Jahren, also seit der Reform von '96, in der Schule vermittelt bekommen. Nun klammert aber der Duden eben die Schreibung der Reform von 1996 aus. Zum Beispiel "Leid tun": Schreibt ein Schüler ab dem 1. August "Leid tun" auseinander und "Leid" groß oder "abwärts fahren" auseinander - was in den letzten zehn Jahren korrekt war -, dann müsste er ab dem 1. August einen Fehler angestrichen bekommen. Hat Theodor Ickler Recht? Ist der neue Duden ungeeignet für die Schule?

Güthert: Lassen Sie mich eine Gegenfrage stellen: Was wäre denn passiert, wenn die Wörterbücher diese alten, überholten Schreibweisen wirklich verzeichnet hätten? Hätten sie einen Vermerk machen sollen: "Nur gültig bis zum 31.7.07"? Da hätten doch die Gegner jubiliert und hätten gesagt: "Das Wörterbuch gilt nur ein Jahr, das könnt ihr dann wegschmeißen", nicht wahr? Nein ...

Hettinger: So war es aber doch bis jetzt?

Güthert: ... es ist vollkommen richtig, dass die Wörterbücher diese Schreibweisen, die überholt sind, nicht verzeichnet haben. Denn wir dürfen die Lehrer ja auch nicht unterschätzen. Die Lehrer sind ja wirklich ein vorderster Front, wenn Sie so wollen, mit ihren Doppelkorrekturen. Die Reform in ihrer Ursprungsversion gilt seit 1996, wurde zum Teil auch schon zum Schuljahr 96/97 eingeführt, spätestens aber zum Schuljahr 98/99, so dass die Lehrer mit am besten überhaupt informiert sind. Und sollten die wirklich mal einen Zweifelsfall haben, dann muss man doch davon ausgehen, dass in den letzten acht Jahren irgendeiner der Kollegen doch ein Wörterbuch angeschafft hat, so dass man diesen Zweifelsfall auch ausräumen kann.

Hettinger: Der neue Duden, so heißt es weiter, muss für den Rat für deutsche Rechtschreibung, muss für Ihre Institution, Frau Güthert, eine große Enttäuschung sein, denn die Duden-Redaktion, die ja selbst ein Mitglied im Rat hat, habe die Vermittlungsbemühungen des Rates unterlaufen, eigenmächtig empfehle die Duden-Redaktion fast durchgehend die ursprüngliche Reformschreibung - also den Zustand vor 2004. Hat der Duden hier durch die Hintertür etwas etabliert? Hat er seine, ja, Deutungsmacht missbraucht?

Güthert: Sagen wir so: Also eine Variantenführung war von Seiten des Rats nicht vorgesehen. Und gewiss mag es auch eine recht eigene Interpretation einiger Regelungen sein. Aber das wird ihm nicht gelingen. Ich habe es ja vorhin schon angedeutet: Die Menschen übernehmen das nicht einfach so. Und etliche, die auch schon gesagt haben: Ja, das eine mag ja ganz sinnvoll sein, aber wir entscheiden eben auch selber. Also es wird ihm nicht gelingen.

Hettinger: Also dieser Dualismus - kann man so machen, kann man aber auch so machen -, wird der ein bisschen unterlaufen dadurch, dass die Duden-Redaktion sagt: "Hm, das hier ist aber schöner, ist besser"?

Güthert: Na ja, man muss auch ganz stark schauen: Wo gibt sie überhaupt Empfehlungen? Manchmal ist es auch so, dass gezeigt wird: Na ja, in gewissen Kontexten ist vielleicht ein Wort austauschbar - nehmen Sie so etwas wie "Schmutz abweisend" -, aber dann in bestimmten Kontexten musst du das getrennt- oder zusammenschreiben. Also zum Beispiel "groben Schmutz abweisend" muss man zwingend getrennt schreiben, wohingegen "sehr schmutzabweisend" dann eben auch zusammen. Oder nehmen Sie so etwas mit Bedeutungen wie "sitzen bleiben": Nur "in der Schule sitzenbleiben" darf man auch zusammenschreiben. Und genau hier werden die Unterschiede in der Darstellung ja auch deutlich. Und dann ist wirklich die große Frage, ob die Menschen, die ja auch für die Getrennt- und Zusammenschreibung, für die vermehrte Zusammenschreibung wieder gekämpft haben, hier der Getrenntschreibung einfach folgen - ich glaube es nicht.

Hettinger: Das hat ja noch Hans Zehetmair verkündet, dass es hier einen schriftlichen Unterschied geben wird im Duden. Also "sitzenbleiben", nicht versetzt werden, schreibt man zusammen und "sitzen bleiben", auf dem Stuhl, schreibt man getrennt. Der Duden führt hier in beiden Fällen die Getrenntschreibung an. Ist das oft Minderheitenmeinung?

Güthert: Nein. Also der Duden führt an: "sitzen bleiben" ist die reguläre Schreibung, wie er es dann nennt, wie man es herauslesen möchte, aber wenn du das übertragen meinst, das heißt im Sinne von "nicht versetzt werden", kannst du auch zusammenschreiben, wir empfehlen dir aber immer die Getrenntschreibung. So ist die Duden-Argumenationslinie. Aber wie gesagt, es wird an keinerlei Schreibvariante irgendwie verschwiegen.

Hettinger: Orientierung schaffen wollen, das ist ja eigentlich ein gutes Anliegen. Aber was ist, wenn der Duden selbst so verwirrt ist durch seine eigene Vorgehensweise, dass er sich im eigenen Empfehlungsdickicht verstrickt? Theodor Ickler behauptet, nicht einmal der Duden hält sich an den Duden. Klingt jetzt sehr forsch, aber er spielt damit an, dass der Duden eine Regel formuliert - Ickler sagt sogar: "frei erfindet" -, nach der "sich bloß strampeln" in drei getrennten Wörtern geschrieben werden muss, dann jedoch beim Ausdruck "sich wund liegen" die Schreibung mit "wundliegen" in einem Wort und eben nicht in zwei getrennten - "wund liegen" - zulässt. Was sagen Sie dazu?

Güthert: Bei "wund liegen", das ist wirklich ein Sonderfall, weil man hier denkt an "sich den Rücken wund liegen". Das heißt, das ist doch wieder so ein Ergebnis. Denn wenn ich da zu lange liege, dann ist der Rücken irgendwann wund, ja? Das zeichnet hier ja das Ergebnis aus, so dass hier diese Regel quer läuft. Im Übrigen ist der Duden natürlich selbst verantwortlich und als Privatverlag als solcher steht er auch dafür, wie er die Regeln dann allgemein verständlicher formuliert, wie er meint.

Hettinger: Mit Blick auf den neuen Duden, aber auch auf die älteren Ausgaben sagt Theodor Ickler in der FAZ: Die Rechtschreibwörterbücher "stellen nicht mehr Tatsachen dar, sondern sie manipulieren die Sprache und versuchen, den Wörterbuchbenutzer in eine bestimmte, politisch gewollte Richtung zu drängen". Das ist ja ein richtig schweres Geschütz. Manipuliert der neue Duden unsere Sprache und uns selbst?

Güthert: Also die Sprache kann er schon mal überhaupt nicht manipulieren. Die kann durch keine Reform manipuliert werden, denn Sie sind ja in Ihrer Ausdrucksfähigkeit nicht eingeschränkt. Wo er hier Empfehlungen ausspricht, ist im Bereich der Doppelschreibungen. Und hier kann man sich ja darüber streiten, ob das jetzt sinnvoll und vernünftig war. Aber eine Manipulation der Sprache, davon kann keine Rede sein.

Hettinger: Theodor Ickler schreibt weiterhin, dass nun den "Hausorthographien" Tor und Tür geöffnet wird. Jeder Verlag, jede Zeitung muss da eine Regelung finden und diese "Hausorthographie", wo jeder Verlag seinen Weg findet - Was schreiben wir groß, was klein, was zusammen, was getrennt? -, das sei ein Rückfall ins 19. Jahrhundert. Ist die Einheitlichkeit auf der Strecke geblieben?

Güthert: Das ist kein Rückfall ins 19. Jahrhundert, sondern es ist gängiger Usus. Ich habe mir mal die Mühe gemacht am Wochenende, mal die Buchstabenstrecke S und N mir angeschaut im Duden - das sind so knapp 200 Seiten - und muss sagen: Ja, da gibt es einige Varianten, die Anzahl wurde ja schon genannt, aber nur ungefähr jede sechste geht jetzt wirklich auf die Revision von 2006 zurück. Das heißt aber auch, es gab sehr viele Varianten schon vorher, zum Beispiel im Bereich von S: Da gibt es 418 Doppelschreibungen, unter anderem 31, die das Wort "Ski" betreffen, also mit "k" oder mit "ch" geschrieben, das ist eine Variante, die im Vorreform-Duden auch schon drin war, und da hat man so was wie "Skiakrobatik", "Skibob", "Skifahrer", "Skifahrerin" und so weiter und so fort. Das zählt jeweils einzeln. Und da sieht man auch, wie man überhaupt auf diese Zahl kommt. Das heißt aber auch, die Variantenproblematik gab es schon immer, die wird es immer geben. Die ist jetzt vielleicht, sind paar hinzugekommen - wie gesagt: ungefähr jede sechste, nach meiner Auszählung. Aber das bringt die Einheitlichkeit auf gar keinen Fall auf die Strecke. Denn Sie müssen ja auch sehen, wenn man einen Stichwortschatz von 130.000 hat und dann ist ungefähr, sind 500 Varianten hinzugekommen, ich denke, damit kann man leben.

Hettinger: Vielen Dank, Kerstin Güthert. Sie ist die Geschäftsführerin des Rates für deutsche Rechtschreibung. Was leistet der neue Rechtschreibduden - Klärung oder Verwirrung? Das war unser Thema.