Von Galen gegen Verschärfung des Jugendstrafrechts

Moderation: Jürgen König · 19.04.2006
Die Präsidentin der Berliner Rechtsanwaltskammer, Margarete von Galen, lehnt eine Verschärfung des Jugendstrafrechts in Deutschland ab. Im Hinblick auf das Urteil im Sürücü-Prozess erklärte sie im Deutschlandradio Kultur, es sei empörend, sich in dieser Debatte auf höhere Strafen in der Türkei zu berufen.
Jürgen König: Zwei ältere Brüder, der Mithilfe angeklagt, werden aus Mangel an Beweisen freigesprochen. Die streng muslimische Familie, die den westlichen Lebensstil der Ermordeten, nicht dulden wollte, sieht ihre Ehre wieder hergestellt, bejubelt das milde Urteil und beantragt flugs das Sorgerecht für den sechsjährigen Sohn der Ermordeten. Wie kann das sein, fragt man sich. Womöglich bekommt die Familie dieses Sorgerecht tatsächlich zugesprochen. Juristisch gesehen hat sich die Familie ja nichts zuschulden kommen lassen. Andererseits, kann eine Familie, die die Ermordung einer Tochter stillschweigend gut heißt, ernstzunehmenderweise für deren Kind sorgen? "Der Gedanke, dass erst die Mutter ums Leben gebracht wird und dass dann die Angehörigen das Sorgerecht beantragen, ist ein derartiger Zynismus, dass mir die Worte fehlen", sagte dazu Bischof Huber der "Bild"-Zeitung.

Was das Familiengericht nun tun kann, wie man mit den neuen Herausforderung an das deutsche Rechtssystem umgehen kann, das fragen wir Dr. Margarete von Galen, Präsidentin der Berliner Rechtsanwaltskammer. Der sechsjährige Sohn der ermordeten Hatun Sürücü lebt derzeit bei den Pflegeeltern. Das Familiengericht muss über seine Zukunft entscheiden. Was meinen Sie? Wird 22-jährige Arzu Sürücü das Sorgerecht bekommen?

Dr. Margarete von Galen: Das lässt sich natürlich von mir aus schwer voraussagen. Grundsätzlich habe ich aber großes Vertrauen in unsere Familiengerichtsbarkeit. Bei der Entscheidung darüber, wer das Sorgerecht erhält, geht es um das Kindeswohl und das Familiengericht wird im Sinne des Kindeswohles entscheiden. Wie die Entscheidung dann aussieht, kann ich nicht beurteilen, aber ich denke, man muss sich keine Sorgen machen, dass ein deutsches Gericht hier gegen das Kindeswohl entscheiden würde.

König: Aber was passiert, wenn ein Muslim sagt, die traditionelle streng muslimische Lebensweise sei das einzig Wahre für das Kind und damit für das Kindeswohl?

Von Galen: Damit muss sich das Familiengericht auseinandersetzen. Das ist Aufgabe der Richter, das dann zu prüfen. Es wird sicherlich drauf ankommen, wohin das Kind Beziehungen hat, was es für das Kind bedeuten würde, in der Familie aufzuwachsen, die für den Tod oder wo zumindest ein Familienmitglied verantwortlich für den Tod der Mutter ist. Also das sind alles Dinge, die gegeneinander abzuwägen sind, und dann wird das Gericht entscheiden. Ich halte es für wenig wahrscheinlich, dass die elterliche Sorge auf ein Familienmitglied übertragen wird, aber das sind Spekulationen. Die Einzelheiten weiß ich nicht. Es wird viel spekuliert über das, was die Familie denkt. Ich meine, darüber haben wir kein Recht, uns da jetzt Gedanken zu machen oder auch Vorstellungen zu machen oder auch zu artikulieren, was da wie gedacht wird.

König: Ja gut, sie denkt ja nicht nur, sie zeigt ja auch, was sie denkt und das hat ja schon… diese Jubelschreie, dieses Victoryzeichen einiger Familienmitglieder, das hat ja schon einige Empörung ausgelöst.

Von Galen: Das hat Empörung ausgelöst, aber ich finde man muss da differenzieren und das vermisse ich. Man muss differenzieren zwischen der doch auch nachvollziehbaren Freude über einen Freispruch, zum Beispiel der Ehefrau desjenigen, der da mit lebenslanger Freiheitsstrafe bedroht war, dass die trauert, wenn der freigesprochen wird, finde ich ist zu viel verlangt. Und der anderen Frage, wie diese Familie zu dem Tod der Tochter oder Schwester oder Schwägerin steht. Ich hab in der Zeitung gelesen, ich war nicht dabei, dass alle drei Angeklagten die Tat bedauert haben. Davon ist mittlerweile in den Presseveröffentlichungen nicht mehr die Rede. Ich weiß es nicht, wer da wie denkt, aber allein die Freude über einen Freispruch, wenn zur Diskussion steht: Freispruch oder Lebenslang, rechtfertigt es meines Erachtens nicht, im Detail wissen zu wollen, wie die Familie über die Ermordung der Tochter denkt.

König: Können Sie verstehen, dass sich darüber jemand empört, bei der Vorstellung, die Familie Sürücü würde dem jetzt sechsjährigen Sohn, der dann Heranwachsender wird, beibringen, dass der Mord an seiner Mutter gerechtfertig war?
Von Galen: Ja natürlich wäre das empörend und das fände ich auch schrecklich und ich denke mal, das würde auch vor keinem deutschen Gericht Bestand haben, eine solche Perspektive der Erziehung. Das wäre indiskutabel. Nur, was mich stört, ist, dass es offenbar Menschen gibt, die wissen, dass so was passieren würde.

König: Aber ist das nicht absehbar?

Von Galen: Das kann ich nicht beurteilen. Ich kann doch nicht in die Familie hineinblicken und ich halte es nicht für ausgeschlossen, dass der eigentliche Strafprozess eine erzieherische Wirkung bereits hat. Der Junge wird jetzt für etwa neun Jahre in dem erzieherischen Jugendstrafvollzug sich aufhalten. Ich hoffe sehr, dass wenn da Vorstellungen bestehen, die unseren Wertvorstellungen nicht entsprechen, dass die im Jugendstrafvollzug korrigiert werden. Dazu ist er da, und insofern maße ich mir nicht an, in diese Gedankenwelt der Familie hineinzuschauen.

König: Welche Rechte hat eigentlich der leibliche Vater des Jungen, der in Istanbul lebt?

Von Galen: Also grundsätzlich kann er auch ein Sorgerecht beanspruchen, aber das ist ja offenbar schon gegen ihn entschieden worden, zugunsten der Mutter. Die Hintergründe kenne ich nicht. Und wenn das jetzt zu Gunsten der Mutter entschieden worden ist, hat da offenbar schon mal ein Gericht befunden, dass er nicht geeignet ist, und insofern gehe ich davon aus, dass es da jetzt auch keinen Wechsel zum Vater geben wird.

König: Nochmal zurück zu dieser Formulierung, das Wohl des Kindes müsse im Vordergrund stehen. Ist nicht dieser Fall ein Beispiel dafür, dass wir möglicherweise vor so einem generellen Konflikt stehen zwischen deutschem Recht und den, sagen wir mal, Lebensvorstellungen einzelner Bevölkerungsgruppen. Also, dass es immer schwieriger wird, juristisch ganz eindeutig zu sagen, zum Beispiel was dem Wohl des Kindes zuträglich ist.

Von Galen: Ich würde nicht sagen, dass es immer schwieriger wird. Diese Schwierigkeit gibt es immer schon und die gibt es auch in ganz anderen Konstellationen, zum Beispiel wenn Kinder sehr an ihrer Mutter hängen, obwohl objektiv feststellbar ist, dass die Mutter die Kinder sehr vernachlässigt, zum Beispiel nicht in die Schule schickt, nicht zum Zahnarzt schickt, die Kinder verwahrlosen lässt, und dann auch ein Familiengericht sieht, da ist eine ganz starke emotionale Bindung der Kinder trotz dieser objektiven Vernachlässigungen. Kappe ich diese Bindung, zum Wohl der Kinder oder sage ich es besser, die Kinder leben mit ihrer Mutter, die sie lieben und haben unter diesen vielen Beeinträchtigungen zu leiden, die verursacht werden, oder schaffe ich denen ein neues Leben, aber mit Trennung von der Mutter. Solche Konstellationen gibt es auch unter rein deutschen Familien, denen also niemand Vorwürfe macht, dass sie unsere Werte nicht beachten.

König: Der Richter war ja todunglücklich, weil er aufgrund der Indizien nicht anders entscheiden konnte. Allenthalben wurde selbstredend der Ruf nach neuen, schärferen Gesetzten laut. Teilen Sie den?

Von Galen: Nein überhaupt nicht. Also das finde ich geradezu empörend, vor allem wie jetzt plötzlich gerade die schärferen Gesetze in der Türkei und die Möglichkeit, dass die anderen beiden in der Türkei verurteilt worden wären, hier als Maßstab herangezogen werden. Also wenn wir anfangen unsere rechtsstaatlichen Wertvorstellungen hier nach denen der Türkei auszurichten, wo sicherlich auch einiges auf dem Wege der Besserung ist, aber auch sicher auch einiges noch zu verbessern ist, dann graust mich das mehr als die Vorstellung, dass hier vielleicht Täter zu Unrecht freigesprochen wurden.

Ich finde es sehr beruhigend, dass dieser Fall nach unseren rechtsstaatlichen Grundsätzen gelöst wurde, und da ist es eben so, wenn das Gericht von einer Tat nicht überzeugt ist, ist freizusprechen. Und wenn man sieht, was hier auf dem Spiel steht - auf der einen Seite lebenslang, auf der anderen Seite Freispruch -, dann ist es sehr beruhigend, dass auch hier, trotz des Drucks der Öffentlichkeit, offenbar sorgfältig geurteilt wurde und nicht etwa nach dem Motto "in türkischen Familien ist das so, also verurteilen wir hier mal" verurteilt wurde. Also diese Variante würde mich erschrecken.

Und unser Jugendstrafrecht ist berechtigt und richtig, wenn der Täter gerade erst 18 war, ist das normal, der Regelfall, dass in einem solchen Fall dann nach Jugendstrafrecht geurteilt wird, und ich denke auch, wenn man in jungen Jahren eine so schreckliche Tat begeht, ist es trotzdem richtig, so jemanden nicht länger als zehn Jahre einzusperren. Wir haben diesen Erziehungsfaktor im Jugendstrafvollzug und ich denke auch, dass der richtig ist und dass der lebbar und durchführbar ist. Insofern gehe ich auch davon aus, neun Jahre Erziehung werden wahrscheinlich reichen, sowohl um die Tat zu sühnen, als auch um möglicherweise bestimmte Dinge auch gerade zu rücken.

König: Können Sie uns noch mal beschreiben, was das konkret bedeutet, neun Jahre Jugendstrafe, was passiert da konkret?

Von Galen: Er hat die Möglichkeit eine Ausbildung zu machen, innerhalb der Haftanstalt, später auch außerhalb. Später kann es sein, dass er nur noch in der Haftanstalt übernachtet und auch außerhalb arbeitet. Aber entscheidend ist eigentlich, dass es bei den Jugendlichen pädagogische Ansätze gibt, die von den Jugendstrafanstalten zu leisten sind. Neben dem reinen Einsperren, was natürlich auch gegeben ist, und auch der Förderung einer Ausbildung, jetzt weiß ich nicht, wie weit das bei dem 18-Jährigen jetzt noch ein Thema ist, aber jedenfalls sollte da, soweit die Kapazitäten reichen, etwas getan werden, in die Richtung diesen Menschen zu einem Erwachsenen zu formen, der dann in unserer westlichen Gesellschaft in diesem Fall auch so leben kann, dass er keine Straftaten mehr begibt.

König: Sie sagten eben, unser Rechtssystem sei ausreichend auch für die Herausforderung der Zukunft geeignet und wir hätten es nicht nötig, uns ausgerechnet bei der Türkei zu informieren. Die Türkei hat der deutschen Justiz Zusammenarbeit, auch Expertenrat angeboten. Ich vermute, Sie halten davon nicht viel.

Von Galen: Nein, das steht auf einem anderen Blatt. Ich denke Expertenrat zum Beispiel beim Thema Aufklärung und Prävention finde ich sehr sinnvoll. Ich denke, dass es sicherlich auch gut für uns ist, uns da, sagen wir mal, wenn wir Integration haben wollen, dann müssen wir natürlich auch wissen, wo wir die Leute abholen. Und dafür halte ich Expertenrat für wichtig und sinnvoll und zum Beispiel auch der Ansatz, die Imame müssten sich einschalten und artikulieren und vielleicht auch da Kontakte zu suchen. Ich finde alles, was im Bereich der Prävention stattfindet, ist gut und kann sicherlich auch ausgebaut werden und da bedarf es sicherlich auch des Rats von Experten.
Mehr zum Thema