"Von diesem Preis geht keine Signalwirkung aus"

Jörg Magenau und René Aguigah im Gespräch mit Katrin Heise · 18.03.2010
Im Rahmen der Leipziger Buchmesse werden heute die Preise im Bereich Belletristik und Sachbuch vergeben. Bei den Sachbüchern könne der Preis nicht als Orientierung dienen, da alle Bücher bereits gründlich durchrezensiert seien, findet unser Kritiker René Aguigah. Den nominierten Romanen gebühre hingegen die Aufmerksamkeit, die der Preis erzeuge, meint sein Kollege Jörg Magenau.
Katrin Heise: Die Autorin Sibylle Lewitscharoff war letztes Jahr Preisträgerin des Leipziger Buchpreises, die diesjährige Nominierung der Helene Hegemann hat Lewitscharoff deutlich kritisiert wegen des Nachweises des Plagiats. Sie ist in der heftigen Diskussion aber nur eine Stimme, und die Auseinandersetzung um die sogenannte Shortlist der Belletristik des Buchpreises ist auch nur ein Aufreger. Zum Fall Hegemann kommt noch der Fall Leithold. Der Historiker Norbert Leithold war mit seinem Buch "Graf Goertz. Der große Unbekannte – Eine Entdeckungsreise in die Goethe-Zeit" eigentlich auf der Sachbuch-Shortlist, wurde aber gestrichen. Er hatte früher Pornofilme mit Minderjährigen gedreht. Viel Wirbel also um den diesjährigen Leipziger Buchpreis. Heute Nachmittag werden die Preisträger der Literatur, des Sachbuchs und der Übersetzung bekannt gegeben. Im Studio begrüße ich unsere Kritiker Réne Aguigah und Jörg Magenau. Schönen guten Tag, die Herren!

Réne Aguigah: Guten Tag!

Jörg Magenau: Morgen!

Heise: Wer sind eigentlich Ihre Favoriten, oder haben Sie einen Favoriten, Herr Magenau, auf der Literaturliste?

Magenau: Auffallenderweise sind ja auf dieser Liste vier Bücher, die mit Kindheiten zu tun haben. Jetzt Hegemann sowieso, aber auch Lutz Seiler, Georg Klein, Jan Faktor. Jan Faktor ist eine Kindheit im Prag der 60er-Jahre, eher die groteske Variante, Georg Klein, eine dämonisch-fantastische Variation der Kindheitsgeschichte, 60er-Jahre-Bundesrepublik, und Lutz Seiler erzählt aus der DDR in seinen Erzählungen. Und Lutz Seiler ist für mich auch der Favorit auf den Preis, weil er doch, glaube ich, einfach der beste, der überzeugendste Literat ist.

Heise: Herr Aguigah, wie sieht es auf der Sachbuchliste aus für Sie?

Aguigah: Genau, ich kann nur was zur Sachbuchliste sagen, da ist mein Favorit das kleine Buch von Wolfgang Ullrich, das ist ein sehr eleganter Essay namens "Raffinierte Kunst. Übung vor Reproduktionen", erschienen im Wagenbach-Verlag. Das Thema dieses Buches ist eine Geschichte in der Kunstgeschichte über das Verhältnis von Original und Reproduktion. Man kann auch sagen, über das Verhältnis von Original und Kopie und ...

Heise: Interessante Debatte ...

Aguigah: ... ganz genau. Was Wolfgang Ullrich da erwägt, ohne jetzt harte und knallige Thesen zu formulieren, könnte man, wenn man will, als kleinen ironischen Kommentar zu einer Debatte über Helene Hegemann verstehen.

Heise: Schauen Sie eigentlich mit Spannung auf die Bekanntgabe, Herr Aguigah, heute Nachmittag?

Aguigah: Ich muss gestehen, dass die Spannung sich in engen Grenzen hält. Es sind fünf Bücher bei den Sachbüchern dabei. Soll ich die anderen kurz nennen?

Heise: Ja, das wäre schön.

Aguigah: Neben dem gerade erwähnten Buch von Wolfgang Ullrich ist es erstens eine Biografie der Gebrüder Grimm von Steffen Martus. Es ist zum Nächsten eine Biografie von Stefan George – man kann nicht genau sagen eine Biografie, sondern präzise gesagt ist es eine Geschichte der Rezeptionsgeschichte von Stefan George, geschrieben von Ulrich Raulff. Drittens ein Buch von Frank Schirrmacher, den "FAZ"-Herausgeber, namens "Payback", da geht es um Informationstechnologie und was Informationstechnologie mit der Gesellschaft macht. Und das fünfte Buch ist ein Philosophenbuch, Michael Hampe: "Das vollkommene Leben. Vier Meditationen über das Glück", das sind vier Essays, die sich mehr oder weniger langatmig um die Frage drehen, wie man glücklich werden kann am Ende. Das sind alles fünf gediegen gute Bücher, keins davon ist aber herausragend.

Heise: Also nicht unbedingt eine große Spannung, die da ausgeübt wird. Wie sieht es bei Ihnen aus, Herr Magenau?

Magenau: Spannung natürlich insofern, ob die Jury es tatsächlich wagen wird, Hegemann auszupreisen oder nicht. Ich glaube nicht, dass sie das tut, und sie wäre auch nicht gut beraten, wenn sie das tun würde. Ansonsten hält sich meine Spannung auch eher in Grenzen. Das ist natürlich schön für den Betreffenden, der dann dieses Hauptlos zieht. Unter 760 nominierten Büchern – muss man sich einmal vorstellen – in diesem Jahr werden dann fünf ausgewählt, und aus diesen fünfen noch mal eins. Das hat schon sehr viel mit Lotterie zu tun, mit Aufmerksamkeitsverteilung der Öffentlichkeit. Insofern, die fünf, die jetzt da drauf sind, die haben schon mal was gewonnen, und wer von denen dann jetzt wirklich den Hauptpreis zieht, der darf sich freuen, aber mir ist es dann eigentlich egal.

Heise: Ich habe eben ja schon erwähnt den Protest, der jetzt noch mal angebracht wurde von unter anderem Sibylle Lewitscharoff. Der Deutsche Schriftstellerverband hat sich sehr verärgert geäußert: "Wenn ein Plagiat", so heißt es, "als preiswürdig erachtet wird, wenn geistiger Diebstahl und Verfälschung als Kunst hingenommen wird, demonstriert diese Einstellung eine fahrlässige Akzeptanz von Rechtsverstößen im etablierten Literaturbetrieb." Hat der Schriftstellerverband recht Ihrer Meinung nach, Herr Magenau?

Magenau: Nun, das ist natürlich eher die gewerkschaftliche Position, die schaut jetzt auf Copyrightfragen, und das ist in der Tat völlig ungeklärt, wie man da in Zukunft verfährt, im Netz auch, wie Texte urheberrechtlich geschützt werden können. Auf der ästhetischen Seite, finde ich, ist es doch ein bisschen zu kurz gegriffen, weil Literatur ist natürlich ein sehr großer Kosmos, in dem jeder Autor sich auf andere Autoren bezieht, naturgemäß, und das tun muss.

Bei Hegemann ist eher das Problem, dass sie doch, ich finde, so ein bisschen schülerhaft abgeschrieben hat. Da sind Stellen, die jetzt nicht ein Verweis sind auf etwas anderes, auf etwas Größeres, sondern wo ich mich frage, warum schreibt man so was eigentlich ab? Das sind so banale Textstellen, die einfach rüberkopiert werden.

Und dann, finde ich, ist es nicht eine Frage, die mit Plagiat oder nicht Plagiat zu beantworten wäre oder die man gar in Vergleich stellen kann jetzt zu Brecht und "Dreigroschenoper" oder anderen großen Werken, sondern das ist einfach ein Fall von Abschreiben in einem relativ schlichten Buch, das von der Literaturkritik auf paradoxe Weise überschätzt worden ist. Und jetzt muss man irgendwie versuchen, zurückzurudern und das mit ästhetischen Kategorien zu unterfüttern.

Heise: Ich habe den Fall, den anderen Fall, den Fall Leithold ja kurz skizziert schon, Herr Aguigah. Handelt es sich Ihrer Meinung nach bei dem Buch, was er geschrieben hat, um ein Buch, das auf die Shortlist gehört hätte, das so ein bisschen Spannung für Sie ausgeübt hätte?

Aguigah: Keinesfalls. Also das Buch heißt "Graf Goertz" und porträtiert jenen Graf Goertz, der in die Goethe-Zeit gehört und ein Höfling gewesen ist in Weimar. Das ist eine gediegene, auch ganz schön geschriebene Kulturgeschichte, die aber jetzt zumindest mein Herz nicht zum Schlagen gebracht hätte.

Ich glaube, das, was der Kollege Jörg Magenau gerade gesagt hat, ist vollkommen richtig: Diese Bücher landen auf der Shortlist in einer Art von Lotteriespiel. 700 Bücher, mehr als 700 Bücher werden da jedes Jahr angeguckt, die Verlage schicken diese Dinge kurz vor Weihnachten zu den Juroren, zur Jury, und bis Anfang/Mitte Januar müssen die sich entscheiden aus 700 Büchern.

Das ist etwas, was kaum menschliche Maße hat, und das heißt, man ist angewiesen auch auf Zurufe, auf die verschiedensten Kanäle, in die man nicht unbedingt immer schauen möchte, und die sind offengestanden trüber als das sogenannte Vorleben von Norbert Leithold, dem ja zugeschrieben worden ist, er habe Pornos gedreht, hat er auch, aber was das mit der Qualität seines Buches zu tun haben sollte, ist vollkommen offen.

Heise: Also dieses Vorleben hätte jetzt in die Entscheidung nicht einfließen dürfen Ihrer Meinung nach?

Aguigah: Richtig, ja.

Heise: Wird da mit zweierlei Maß gemessen, also wenn man gerade auch Hegemann und Leithold vergleicht, also diesen Verlauf wieder runter von der Shortlist?

Magenau: Ich finde eher, das sind zwei vergleichbare Fälle, weil in beiden Fällen wird etwas unsachgemäß auf die Person zurückgegriffen. Bei Hegemann ja auch, indem man sagt, das ist nun mal ein 17-jähriges Mädchen, und dafür ist es ja ganz gut. Wenn sie 40 wäre, dann würde man es vielleicht nicht sagen bei diesem Buch. Insofern ist auch das eine nicht-ästhetische Kategorie des Buches, und das geht sowohl bei Leithold als auch bei Hegemann schief.

Heise: Im Vorfeld des Leipziger Buchpreises geht es im Deutschlandradio Kultur um das Hin und Her im Vorfeld und um die Bedeutung von Literaturpreisen oder Preisen in diesem Metier im Allgemeinen. Dazu hören Sie unsere Kritiker Réne Aguigah und Jörg Magenau. Was bedeuten Ihrer Meinung nach eigentlich diese Diskussionen für den Buchpreis? Kann man sagen, das Vorleben, das Plagiat und so weiter, sind da Diskussionen, bilden sich da Diskussionen auf der Shortlist ab sozusagen von gesellschaftlichem Interesse? Ist da der Zeitgeist eingefangen auf diesen Shortlists?

Aguigah: Ich finde, eine Sache kann man aus diesen Debatten jetzt tatsächlich lernen, nämlich man kann drüber nachdenken, was so ein Preis überhaupt bedeutet. Stellt dieser Preis tatsächlich am Ende dasjenige Buch aus, das das beste dieses Frühjahrs sei? Das ist, glaube ich, wenn man sich die Debatten jetzt anguckt, vollkommen irrwitzig, das zu behaupten. Es gibt respektable Bücher bei der Belletristik, beim Sachbuch, das ja, aber diese beiden Fälle, Hegemann wie Leithold, zeigen, dass da enorm viel Willkür, enorm viel Lotterie am Werk ist und auch viel Schachtelhuberei oder wie man das nennen will.

Ich möchte noch erwähnen, dass im Sachbuch bemerkenswert ist, dass die Jury da sogar auf Nummer sicher gegangen ist. Die sind auf Nummer sicher gegangen, kein schlechtes Buch auszuwählen aus dieser Übermasse von 700 Büchern. Die haben sich nämlich fünf Bücher ausgesucht für ihre Shortlist, die alle bereits gründlich gelesen sind, durchrezensiert sind, denn sie sind erschienen im vergangenen Herbst, ausnahmslos. Ein Buch ist sogar im vergangenen März erschienen, das heißt, es hätte eigentlich auf die Buchmesse 2009 gehört, nicht auf diese Buchmesse 2010.

Heise: Also meinen Sie, man muss da ganz einfach aktueller sein?

Aguigah: Der Vorteil ist, dass die diese Bücher wirklich auch gelesen haben werden. Es ist kein Ausreißer dabei. Der Nachteil ist, dass von diesem Preis, welches Sachbuch auch immer den Preis kriegt, geht keine Signalwirkung aus. Man kann sich solch einen Preis ja wünschen für Orientierung, dieser Preis wird im Sachbuch aber nichts orientieren, weil über die Qualität dieser fünf Bücher sind wir schon orientiert, wenn wir Rezensionen gelesen haben oder gar schon die Bücher.

Magenau: Das ist in Belletristik vielleicht ein kleines bisschen anders, weil da die Steuerungsfunktion auch stärker ist durch Preise, durch Aufmerksamkeit, die erst erzeugt werden muss auf einen Roman. Bei Sachbüchern kann man sich am Thema orientieren – interessiert mich oder interessiert mich nicht. Das ist bei Romanen eher seltener der Fall. Und diese fünf Bücher – abgesehen von Hegemann, also vier, die übrig bleiben, Anne Weber habe ich vorhin noch nicht erwähnt –, das sind durchaus diskussionswürdige Bücher, die es verdient haben, da zu stehen. Das hätten andere vielleicht auch verdient, das ist eben immer die offene Frage, warum jetzt die fünf und nicht vielleicht fünf andere. Aber grundsätzlich, finde ich, sind es sehr respektable Werke, die also Aufmerksamkeit auch verdient haben.

Heise: Herr Aguigah hat eben das Wort Wagemut in den Mund genommen. Ist die Shortlist der Belletristik wagemutig oder sollte sie es sein?

Magenau: Ich weiß nicht, ob das die richtige Kategorie ist für so einen Buchpreis. Also wenn man die besten Bücher auswählen will, dann muss man die besten Bücher auswählen und nicht die wagemutigsten. Hegemann ist vielleicht wagemutig gewesen, das finde ich falsch, dass sie auf der Liste steht, Leithold wäre auch wagemutig gewesen, das dabei zu lassen, dieses Buch – haben sie nicht gemacht, sie wollten sich nicht noch eine zweite Schwierigkeit ans Bein binden. Also da, finde ich, sollte man wirklich von der ästhetischen, von der Qualität des Buches ausgehen und nicht jetzt Risikobereitschaft der Jury. Das ist eine sportliche Herangehensweise, die den Büchern nicht adäquat wäre.

Aguigah: Ich hätte Risikobereitschaft, Wagemut gut gefunden, sportliche Bereitschaft finde ich ganz richtig, Preis ist auch eine sportliche Kategorie, und ich muss gestehen, dass Bücher, von denen ich weiß, dass sie okay bis gut sind, die machen mich jetzt nicht Zittern auf die Bekanntgabe der Preise heute Nachmittag.

Heise: Das heißt, was erwarten Sie von einem Preis, welches Signal muss davon ausgehen?

Magenau: Dieser Preis ist ja jetzt nicht für Literaturkritiker gedacht, die sich sowieso schon informiert haben vorher, sondern er ist für Leute gedacht, die in eine Buchhandlung gehen, die wissen wollen, was sie kaufen können in diesem Frühjahr, und sie kriegen dann eine Vorauswahl von Fachleuten präsentiert. Darüber kann man diskutieren, aber die haben dann irgendwie einen Aufkleber drauf, die liegen auf speziellen Büchertischen. Das ist ein Preis, der eine reine Marktfunktion hat, und wenn er funktioniert, wird sein Funktionieren daran gemessen, ob er es schafft, die Bücher, die er auswählt, auch auf die Bestsellerliste zu hieven. Das kann der Frankfurter Literaturpreis auf der Frankfurter Buchmesse sehr gut, der Leipziger ein kleines bisschen schlechter. Er arbeitet dran, genauso wirkungsvoll zu sein wie im Herbst. Aber das ist die einzige Funktion, die er hat, ansonsten hat er keine.

Heise: Und im Sachbuchbereich, da sind die Bücher ja alle schon auf irgendwelchen Listen.

Aguigah: Wenn das die Funktion ist, lieber Jörg Magenau, dann hat er im Sachbuchteil leider versagt, also weil diese Bücher sind ausgewiesen.

Heise: Vielen Dank die Herren Réne Aguigah und Jörg Magenau, Kritiker im Deutschlandradio Kultur, für das Gespräch über den jetzt heute Nachmittag zu vergebenden Leipziger Buchpreis! Die Preisträgerin oder den Preisträger, werden wir hoffentlich morgen früh im "Radiofeuilleton" direkt einvernehmen.
Leipziger Buchmesse 2010: 4 der 5 Nominierten für den Buchpreis im Bereich Sachbuch (v. l. ) Wolfgang Ullrich, Ulrich Raullf, Steffen Martus, Michael Hampe
Vier der fünf Nominierten für den Buchpreis im Bereich Sachbuch: Wolfgang Ullrich, Ulrich Raullf, Steffen Martus, Michael Hampe (v.l.)© Deutschlandradio - Janine Wergin
Leipziger Buchmesse 2010: Besucher am Eingang
Leipziger Buchmesse 2010: Besucher am Eingang© Deutschlandradio - Janine Wergin
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