Von der Straße ins Museum

Hans Walter Hütter im Gespräch mit Frank Meyer · 23.05.2011
Der erste grün-rote Koalitionsvertrag wäre ein interessantes Objekt für Hans Walter Hütter, den Präsidenten der Stiftung Haus der Geschichte. Das Bonner Museum sammelt Gegenstände, die ihren historischen Wert manchmal erst im Laufe der Jahre unter Beweis stellen. Die Ausstellung "Deutschland seit 1945" ist voll von ihnen.
Frank Meyer: Die jüngste Vergangenheit, die kommt im Bonner Haus der Geschichte schon ins Museum. Dort wurde heute die neugestaltete Dauerausstellung eröffnet unter dem Titel "Unsere Geschichte – Deutschland seit 1945". Und von 1945 reicht diese Ausstellung ziemlich nah an unsere unmittelbare Gegenwart heran. Über die Gegenwart als Geschichte reden wir mit Professor Hans Walter Hütter, er ist der Präsident der Stiftung Haus der Geschichte. Herr Hütter, seien Sie uns willkommen!

Hans Walter Hütter: Guten Tag!

Meyer: Herr Hütter, Sie müssen ja die Gegenwart eigentlich ständig daraufhin beobachten, ob etwas passiert, was später mal in die Geschichtsbücher kommt. Ich kann mir vorstellen: Sie haben schon bei Winfried Kretschmann angerufen, um zu fragen, ob Sie seinen Anzug kriegen, den er getragen hat bei der Vereidigung als erster grüner Ministerpräsident. Haben Sie das getan?

Hütter: Nein, das habe ich nicht gemacht, aber der Koalitionsvertrag wäre durchaus interessant. Wir sammeln und stellen aus ja unter nationalen und internationalen Aspekten, und da wir es hier in der Bundesrepublik mit dem ersten Grünen-Ministerpräsidenten zu tun haben, ist das durchaus ein Ereignis auch von nationaler Bedeutung, gleichwohl die Kolleginnen und Kollegen des Hauses der baden-württembergischen Geschichte an diesem Dokument sicherlich auch Interesse haben.

Meyer: Weil wir gerade bei Baden-Württemberg sind: Haben Sie sich eigentlich auch Erinnerungsstücke besorgt dort vom Stuttgart 21-Protest?

Hütter: Wir sind im Gespräch mit unterschiedlichen Gruppen, aber hiermit sprechen Sie schon ein großes Problem an. Wenn Sie in der Zeitgeschichte, also in der Gegenwart für die Geschichte sammeln, dann muss man im Grunde genommen täglich sich die Frage stellen: Was könnte denn möglicherweise von historischer Relevanz sein? Das ist bei einigen historischen Ereignissen oder Entwicklungen klar und eindeutig, zum Beispiel den Fall der Mauer oder meinetwegen der 11. September. Allerdings andere Ereignisse – ich denke zum Beispiel an die Afghanistankonferenz hier auf dem Petersberg –, da wird man sich die Frage stellen müssen: Ist dieses Ereignis denn auch dauerhaft von Bedeutung? Und so sammelt man, manches Mal trifft man den Nagel auf den Kopf, manchmal wird man auch Objekte sammeln, die dann doch ihre Bedeutung aufgrund des Ereignisses nicht dauerhaft erhalten.

Meyer: Ich habe auch gestaunt, wie schnell sie reagieren können, sehr schnell jedenfalls für einen Historiker, der doch eigentlich in anderen Zeiträumen zu Hause ist. Als zum Beispiel 2007 der G8-Gipfel in Heiligendamm stattfand, da haben Sie eine Mitarbeiterin hingeschickt, um da noch am stehenden Zaun Protestmaterial, nehme ich an, einzusammeln, oder was hat die Mitarbeiterin von dort geholt?

Hütter: Ja, ja, in der Tat, also angefangen von Flugblättern und Materialien der Protestler bis hin zu Ausstattungsgegenständen. Das ist eben eines unserer Sammlungsprinzipien, wenn Sie so wollen: von der Straße ins Museum. Zeitgeschichte ist ja unmittelbar täglich verbunden mit der Schnittstelle zur Gegenwart, und dies ist ein Stück weit eine andere Aufgabe als es der meinetwegen Althistoriker oder der Kollege aus der Mediävistik hat.

Meyer: Sie selbst haben das auch getan, Sie sind zum Beispiel damals, als die große Demonstration am 4. November 1989 in der ja noch existierenden DDR – und da stand ja auch die Mauer noch –, da sind Sie hingefahren und haben sich die Plakate, die Transparente von damals besorgt. Sie waren damals sicher, dass diese Großdemonstration in die Geschichte eingehen wird?

Hütter: Tja, sicher ist man denke ich erst mit einem gewissen Abstand, aber auch hier zeichnete sich das ja ab. Das war wirklich eine der ganz großen, wie sich nachher herausstellte wohl, mit Blick auf die Teilnehmer größte Demonstration, und das war in der Tat ein spannender Besuch. Ich habe dann mit demjenigen, der die Herstellung der meisten Transparente organisiert hatte, seinerzeit einen Bühnenbildmaler des Berliner Ensembles besucht, der dann auch eine Reihe dieser Transparente eingesammelt hatte nach der Demo. Also das war wirklich spannend, mit diesem Zeitzeugen zu reden, diese Objekte zu sehen, zu sichten und sie ihm dann auch irgendwo, ja, absolut abzuschwatzen.

Meyer: Mussten Sie die dann noch rausschmuggeln aus der DDR?

Hütter: Nein, nein. Wir haben dann die Sachen ganz unproblematisch nach Bonn geholt, und konnten dann – das war seinerzeit noch vor der ersten Eröffnung der Dauerausstellung in Bonn –, vor 1994 konnten wir eine Auswahl der Transparente als Werkstattausstellung in Bonn zeigen. Also diese Objekte haben wiederum eine eigene Geschichte in sich.

Meyer: Deutschlandradio Kultur, im Bonner Haus der Geschichte wurde heute die neugestaltete Dauerausstellung eröffnet, und darüber reden wir mit Hans Walter Hütter, dem Präsidenten der Stiftung Haus der Geschichte. Können Sie uns mal an einem Beispiel schildern, wo neue Forschungsergebnisse aus der Geschichtswissenschaft jetzt dazu geführt haben, dass Sie einen Teilbereich Ihrer Ausstellung anders gestrickt haben?

Hütter: Ja, gern, zum Beispiel das Thema DDR, also die innere Entwicklung der DDR. Auch Flucht, auch das Alltagsleben in der DDR konnte, als wir 1994 die Ausstellung eröffneten, das heißt, Planungen, die ja in das Ende der 1980er-Jahre hineinreichten …In dieser Zeit wussten wir einfach viel weniger zur DDR. In den letzten 20 Jahren ist die Forschung erheblich vorangegangen. In den letzten 15 Jahren haben wir auch erheblich mehr und in der Tat spannende Objekte und Dokumente in die Hände bekommen, die wir jetzt präsentieren wollen. Überhaupt das Alltagsleben, also die Auswirkungen politischer Entscheidungen und Entwicklungen auf die Menschen, auf die Menschen auch in der DDR können wir jetzt viel eindrucksvoller, anschaulicher, auch vertiefter präsentieren, als das in der Vergangenheit möglich war.

Meyer: Den Alltag mit zu zeigen neben der Politik, das ist auch immer Ihr Anspruch, also es ist auch eine Art Erlebnisausstellung, was Sie zusammengestellt haben, wo man den Alltag nacherleben kann zum Teil?

Hütter: Ja, nacherleben ist ja problematisch. Und wir wissen ja, dass sich Geschichte überhaupt nicht wiederholen lässt. Also dieser Erlebnisbegriff ist immer problematisch und führt zu Diskussionen. Aber worauf es uns ankommt, ist, die historischen Ereignisse und Entwicklungen anschaulich zu präsentieren, also die Besucher der unterschiedlichen Altersgruppen, Herkunft, Bildung – nicht nur Deutsche, sondern zunehmend natürlich auch Besucherinnen und Besucher mit Migrationshintergrund – zu erreichen, überhaupt auf die Themen aufmerksam zu machen, und somit eine vertiefte Beschäftigung zu provozieren, wenn Sie so wollen.

Meyer: Schildern Sie uns doch bitte mal eine Situation aus Ihrer neuen Dauerausstellung, die besonders anschaulich ist.

Hütter: Ja, zum Beispiel die Arbeitswelt in den 1950er-Jahren. Dieses Thema war auch in der alten Ausstellung vorhanden, allerdings in Form von Dokumenten, mehr in Papierform, wenn Sie so wollen. Wir haben jetzt eine räumliche Situation, eine Ausstellungssituation geschaffen mit Großfoto, mit großen filmischen Darstellungen und mit Originalmaschinen aus dieser Zeit, die einen, so hoffe ich, lebendigen Eindruck davon vermitteln, wie in den 1950er-Jahren Massenproduktion stattfand, also viele einzelne Maschinen, an denen viele Menschen in einem großen Werkssaal standen, mit viel Lärm und Staub und so weiter. Das Wirtschaftswunder fiel nicht vom Himmel, sondern musste auf diese Weise, wie wir es andeuten, mühsam erarbeitet werden.

Meyer: Herr Hütter, wir haben über eine Seite Ihrer Arbeit noch gar nicht gesprochen, die in meiner Vorstellung eine der schwierigsten ist, nämlich die Frage der politischen Anschauung Ihrer Objekte. Wir wissen ja alle, dass die jüngste Geschichte immer die am heftigsten umkämpfte ist, wenn wir mal an einen Moment denken, 1968, für die einen der entscheidende Modernisierungsschub für die Bundesrepublik, für die anderen Absturz in Anarchie, Geburtsstunde des Linksterrorismus und so weiter – extrem unterschiedliche Deutungen. Wie verhalten Sie sich da als Ausstellungsmacher dazu?

Hütter: Also uns ist es ausdrücklich ein Anliegen, diese Entscheidungen, Entwicklungen, diese Prozesse multiperspektivisch darzustellen. Genau das, was Sie gerade angesprochen haben, die unterschiedliche Bewertung in der Zeit, der Zeitgenossen, und die unterschiedliche Bewertung bis heute muss nach meiner Auffassung in Ausstellungen dieser Art zum Ausdruck kommen. Es geht nicht darum, denn eine Meinung, meine oder die des Mitarbeiters, darzustellen, nein, die unterschiedlichen Meinungen darzustellen, dem Besucher anzubieten, der dann sich auf die Seite des einen oder des anderen schlagen kann, oder sich eine eigene – und das wäre das Ziel –, eine eigene, gern auch kritische Meinung zu bilden.

Meyer: Unsere Gegenwart als Geschichte zu besichtigen, das ist in der neugestalteten Dauerausstellung im Bonner Haus der Geschichte, die Dauerausstellung wurde heute eröffnet. Hans Walter Hütter war für uns im Studio, der Präsident der Stiftung Haus der Geschichte. Vielen Dank für das Gespräch!

Hütter: Bitte sehr, gerne!

Informationen des Hauses der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland zur Dauerausstellung
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