Von der Sinnlosigkeit des Streits über theologische "Wahrheiten"

Edna Brocke im Gespräch mit Herbert A. Gornick |
Edna Brocke, Leiterin der städtischen Gedenkstätte "Alte Synagoge" in Essen, wünscht sich christliche Gesprächspartner ohne Missionierungsgedanken. Ein Gespräch auf Augenhöhe würde implizieren, dass der Christ nicht letztendlich den Wunsch hätte, sie als Jüdin zu einer Christin zu machen, sagte Brocke anlässlich der "Woche der Brüderlichkeit".
Herbert A. Gornik: Seit einer Woche läuft die "Woche der Brüderlichkeit" in Deutschland. "So viel Aufbruch war nie" ist das Jahresthema der "Woche der Brüderlichkeit". Und damit blicken die Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit auf 60 Jahre des christlich-jüdischen Dialogs zurück. Wir blicken auch zurück, und wir bilanzieren den Dialog mit Dr. Edna Brocke.

Sie ist seit 1988 Leiterin der städtischen Gedenkstätte "Alte Synagoge" in Essen. Die in Jerusalem geborene Politologin ist Mitglied im Gesprächskreis "Juden und Christen" beim Zentralkomitee der deutschen Katholiken. Dr. Brocke, so viel Aufbruch war noch nie, heißt es heute. Andere sagen, so viel Stillstand im christlich-jüdischen Dialog war noch nie. Was sagen Sie?

Edna Brocke: Die Frage ist, was für Erwartungen man an einen solchen Dialog hat. Wenn es theologische sind, dann gab es einen Aufbruch, aber ich würde ihn eher in die Richtung des Stillstandes setzen. Wenn es ein politischer war, dann gab es ihn wirklich erstmalig in dieser Form.

Gornik: Meinen Sie mit dem politischen Aufbruch den Aufbruch nach 1945?

Brocke: Ja.

Gornik: Das ist schon lange her. Gibt es heute auch noch Aufbrüche?

Brocke: Mein persönlicher Eindruck ist, dass es das in vereinzelten persönlichen Kontakten gibt, aber flächendeckend oder wirklich in einer breiten Strömung kann ich ihn nicht erkennen.

Gornik: Kritischer scheint mir, was Sie gerade gesagt haben, wenn Sie sagen, der theologische Aufbruch, den können Sie eigentlich gar nicht sehen oder er ist verschüttet worden. Ist denn der Streit um die Pius-Bruderschaft und um den Holocaust-Leugner Bischof Williamson typisch oder nur ein Ausrutscher?

Brocke: Das ist für mich ein Beispiel dafür, dass es um ein Politikum und nicht um ein Theologikum geht. Die theologischen Fragen, ob der eine Weg oder der andere Weg, "ein Heilsweg für alle" sei, das ist eine Frage, die im Mittelalter relevant war, die aber heutzutage nur noch wenige Menschen - sowohl bei Christen als auch bei Juden - interessiert. Und da Judentum eben keine Glaubens-, sondern eine Seinsgemeinschaft ist, reduziert sich alles auf ein Politikum.

Gornik: Was heißt das, eine Seinsgemeinschaft im Unterschied zu einer Glaubensgemeinschaft sei das Judentum?

Brocke: Eine Seinsgemeinschaft heißt, dass man als geborener Jude, Sohn oder Tochter einer jüdischen Mutter, automatisch Mitglied in dieser Gemeinschaft ist, ob man irgendetwas glaubt oder gar, "etwas Richtiges" oder gar was, "Falsches", ist sekundär bis irrelevant. Im Christentum bleibt man zwar getauft, aber ein Christ ist man dadurch, dass man der Glaubensgemeinschaft sich angeschlossen hat.

Gornik: Hat das praktische Folgen für das gegenseitige Verständnis und Verhältnis?

Brocke: Ich meine, das ist der Ausgangspunkt, der schon bei Paulus das Problem andeutet, oder Paulus ist ein Beispiel dafür, dass er das Problem erkannt hat. Und seine Lösung war, aus dieser Seinsgemeinschaft wird eine Glaubensgemeinschaft. Die, die an Jesus und an die Nachfolger geglaubt haben, gehören dazu. Und dieser grundlegende Unterschied ist nicht aufzulösen.

Ich versuch's einfach mal mit einem Beispiel: Wenn zehn Juden zusammen sind, können sie einen Gottesdienst abhalten - wer diese Juden sind, was sie glauben, ist egal, sie können einen Gottesdienst abhalten. Wenn Christen sich treffen, die Zahl ist jetzt nicht das Ausschlaggebende, die können erst dann einen Gottesdienst abhalten, wenn sie sich vergewissern, dass sie ein Glaubensbekenntnis im Namen des Vaters und so weiter … Und erst wenn sie sich auf der Glaubensebene vergewissert haben, können sie einen Gottesdienst feiern. Das ist für mich ein Beispiel für den Unterschied zwischen einer Seinsgemeinschaft und einer Glaubensgemeinschaft.

Gornik: Wenn ich Sie richtig verstehe, macht das den Dialog zwischen Christen und Juden nicht leichter, sondern erschwert ihn, denn das christliche Selbstverständnis müsste sich ändern. Sie sagen auch in einem Themenbeitrag, im Themenheft der christlich-jüdischen Gesellschaften, zum Thema, das Christentum sei eigentlich eine Religion, in der die Gewaltbereitschaft immanent sei, und sie zitieren zustimmend, das Christentum sei eine Religion, in der der Antisemitismus essenziell sei. Also, wenn man aber einem Dialogpartner vorwirft, er sei geradezu genetisch schon der Prügelnde, dann ist das nicht sehr förderlich, oder?

Brocke: Also, ich habe in diesem Zitat einem Bischof zugestimmt, der dies als Christ und als evangelischer Bischof gesagt und geschrieben hat und damit eine große Kontroverse Mitte der 70er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts ausgelöst hat. Und ich denke, das hat nichts mit Genetik zu tun, sondern das hat mit dem Ursprung des Auseinandergehens der Wege zu tun.

Und da das Christentum - wie der Islam übrigens auch - eine missionierende Religion ist, also eine Glaubensgemeinschaft, die davon ausgeht, dass ihr Weg der einzig heilbringende Weg sei, muss sie per definitionem diese Sicht verbreiten. Und wenn es nicht immer glimpflich geht oder theologisch im Diskurs, dann werden auch andere Wege gewählt. Und die Geschichte zeigt uns, dass es so war.

Gornik: Der Bischof, den Sie erwähnen, war Ulrich Wilckens . . .

Brocke: Genau.

Gornik: . . . in der Auseinandersetzung mit David Flusser. Der ist aber sehr umstritten gewesen mit seiner Position in der evangelischen Kirche. Beschreiben Sie da wirklich nach 1945 den Mainstream, also den Hauptweg in der christlichen Theologie, oder sind das, diese Wahrheitsmonopol-Diskussionen, nicht Diskussionen von gestern?

Brocke: Das mag so sein, dass das nicht ein Mainstream ist. Das ändert aber nichts daran, dass die Erkenntnis trotzdem richtig sein kann. Ich glaube, dass in der Neuzeit die Fragen, die um den "richtigen Glauben" im Mittelalter und danach geführt wurden, so heute nicht mehr geführt werden, das ist sicher richtig. Aber wenn man den theologischen Grundfragen nachgehen will, dann bleiben sie, wie sie sind.

Und wenn das Christentum diese Grundposition aufgeben würde, gäbe es kein Christentum mehr. Das will ich als Jüdin um keinen Deut andeuten oder wünschen oder - überhaupt nicht. Sondern mein Argument ist, da die Grundfesten so sind, wie sie sind, bringt es nichts, wenn wir theologisch an der Peripherie irgendwelche neuen Formulierungen finden - sie ändern am Politikum, und nicht am Theologikum, sie ändern am Politikum des Dissenses nichts.

Gornik: Worin bestünde denn nach Ihrer Ansicht ein möglicher Fortschritt, und ist der denn überhaupt möglich?

Brocke: Ich weiß nicht, ob ich das Wort Fortschritt verwenden würde. Ein Versuch eines Gespräches miteinander müsste an erster Stelle die Voraussetzung haben, dass man von beiden Seiten auf Augenhöhe miteinander spricht. Und das würde implizieren, dass der christliche Gesprächspartner nicht letztendlich den Wunsch hat, mich als Jüdin zu einer Christin zu machen. Und da sind wir schon im Zentrum des Dilemmas: Ich erwarte das nicht von einem Christen, und deswegen macht es relativ wenig Sinn, über die theologischen "Wahrheiten" zu streiten, sondern ich denke, dass wir als Christen und Juden über die Wahrheitswahrnehmungen sprechen sollten.

Und da unterscheiden wir uns an vielen Stellen, über die man durchaus diskutieren kann - zum Beispiel Auslegung verschiedener Texte aus der jüdischen Bibel, die für Christen völlig unbekannt sind in der Regel. Wenn Christen die wahrnehmen würden, dann würden sie eher verstehen, warum viele Juden so und nicht anders denken, fühlen, argumentieren und was weiß ich.

Gornik: Wir sprechen mit Dr. Edna Brocke, der Leiterin der städtischen Gedenkstätte "Alte Synagoge" in Essen. Frau Brocke, noch einmal nachgefragt: Bauen Sie da nicht einen Gegner auf, eine Gegenposition, die und der so gar nicht mehr existiert? Wo gibt es denn das Bewusstsein, man dürfe und müsse im christlichen Bereich Juden missionieren und zum Christentum bekehren? Ist nicht in allen christlichen Kirchen eine gemeinsame Überzeugung, dass man nun gerade keine Judenmission mehr macht?

Brocke: Leider nicht. Der Alltag sieht völlig anders aus. Nehmen Sie nur die leider sehr "erfolgreiche" Einrichtung der evangelischen Kirchen in den USA, "Jews for Jesus", das sind protestantische Missionsaktivitäten. Nehmen Sie den Süden Deutschlands, wo EDI, evangelischer Dienst an Israel, mit großen Geldern sehr aktiv ist, vor allem unter russischen Zuwanderern, jüdischen, russischen Zuwanderern in die Bundesrepublik. Meine persönliche Erfahrung mit x Leuten in diesem Dialog ist eine völlig andere. Mag sein, dass es viele offizielle Papiere von verschiedenen Kirchen gibt. Das ist sicher richtig, die gibt es, und die lass ich auch nicht außer Acht, aber mein Alltag sieht anders aus, als Jüdin, die bewusst Jüdin ist.

Gornik: Die christlichen Kirchen haben im Verhältnis untereinander weltweit einen Begriff geprägt, der ihre Verschiedenheit in vielen Punkten bestehen lässt, aber einen Dialog möglich machen soll. Der Begriff heißt "Versöhnte Verschiedenheit". Können Sie sich so etwas auch im christlich-jüdischen Dialog vorstellen?

Brocke: Also, wenn ich ganz ehrlich bin, habe ich mit diesem Begriff, den ich auch kenne, große Probleme, weil der Begriff "Versöhnung" für meine Wahrnehmung die Grenzziehung meistens nivelliert. Und gerade, wenn man Grenzen ziehen kann, erst dann kann man über die Zäune hinweg entweder ein Törchen öffnen oder eine Brücke bauen, erst dann. Aber solange die Grenze nicht klar ist, ist dieses Wort Versöhnung für mich, ja, Sie werden mir verzeihen, so ein bisschen eine rosarote Sauce drübergießen wollen und dann die Verschiedenheiten nicht ernst nehmen und nicht ausleben können.

Gornik: Dr. Edna Brocke war das, zu Gast im Deutschlandradio Kultur in der Sendung "Religionen". Herzlichen Dank.