Von der Schuld eines Kindes

07.10.2008
Einen kleinen Jungen in Seelennöten hat Leslie Poles Hartley zum Helden seines Romans "The Go-Between" gemacht. Als der zwölfjährige Leo entdeckt, dass seine Angebetete ihn als Überbringer von Liebesbotschaften an einen anderen benutzt, wird er mitschuldig an der Aufdeckung des Verhältnisses. In fast tänzerischem Tonfall beschreibt der Autor die Gefühlkonflikte seines Protagonisten.
Der erste Satz wurde berühmt, obwohl das Buch von Leslie Poles Hartley lange vergessen war: "Die Vergangenheit ist ein fremdes Land, dort gelten andere Regeln." In diesem Land, so scheint der Satz zu besagen, lebt man anders, die Leute handeln auf seltsam unverständliche Weise.

"Dort" ist das England um die vorletzte Jahrhundertwende. Der 12-jährige Leo verbringt seine Sommerferien auf dem Landsitz der reichen Eltern seines Schulfreundes. Der schüchterne Junge, der mit seiner verwitweten Mutter in kleinen Verhältnissen lebt, fühlt sich fremd in dieser Umgebung. Erst als die schöne ältere Tochter der Familie, Marian, ihn unter ihre Fittiche nimmt, fühlt er sich zugehörig, verliebt sich glühend in sie, und er tut ihr bereitwillig einen Gefallen: Fortan übermittelt er Briefe zwischen ihr und Ted Burgess, einem jungen Bauern.

Der Leser ahnt schon bald, was dahinter steckt. Bloß Leo weiß nicht, wofür er in Dienst genommen wird. Als er erkennt, dass seine beiden erwachsenen Freunde ein Liebesverhältnis haben, obwohl Marians Verlobung mit Lord Trimingham kurz bevorsteht, ist er schockiert und zutiefst verwirrt. Diese Verwirrung führt dazu, dass die heimliche Affäre in einer traumatisierenden Zuspitzung der Ereignisse auffliegt.

Erzählt wird die Geschichte 50 Jahre später. Der altgewordene Leo, ein einsamer Mensch, der sein Leben mit dem Archivieren von Büchern zubringt, kommt über das Gefühl, schuldig geworden zu sein, nicht hinweg. Sein Tagebuch von damals hilft ihm, die Geschehnisse wiederzuerwecken. Die Bilder von einem heißen Sommer steigen wieder auf, Weizenfelder glänzen in der Sonne, man picknickt im Grünen, schwimmt im Fluss, ein Cricket-Match zwischen Schloss- und Dorfbewohnern wird ausgetragen, Konzerte krönen abendliche Geselligkeiten.

Der Roman besticht durch seine Stimmungen. Man erliegt dem elegischen, fast tänzerischen Tonfall. Wie mit impressionistischem Pinsel hingetupft wirken die Schilderungen der Seelennöte des jungen Helden, dessen Innenleben sich in der sommerlichen Landschaft spiegelt, in der flirrenden Hitze der mittäglichen Botengänge bis zu dem tosenden Gewitter am dramatischen Ende.

Auch die Figurenzeichnung ist von lässiger Eleganz: Da ist der großsprecherische Freund, der seine Unsicherheit hinter einem früh gelernten Snob-Appeal verbirgt, die noble, migränekranke Dame des Hauses, die ein herrisches Regiment führt, der freundliche Graf Trimingham, der im Burenkrieg buchstäblich sein Gesicht verloren hat, und der muskelstarke Ted, mit dem sich der einfühlsame Junge gegen alle Eifersucht nach Kräften identifiziert.

Ohne epigonal nachzuahmen, knüpft Hartley an die erzählerischen Traditionen des 19. Jahrhunderts an, Emily Bronte scheint über die Seiten zu geistern. Obendrein übernimmt er Motive aus D. H. Lawrences "Lady Chatterleys Lover" oder aus E. M. Forsters "Wiedersehen in Brideshead" wie das der leidenschaftlich ausgelebten Mesalliance sowie den weiblichen Anspruch auf eine selbstbestimmte Existenz.

Dabei beweist Hartley durchaus ästhetische Selbständigkeit und formale Autonomie. Sein Roman über den Verlust der Unschuld und die Verwicklungen eines Kindes in ein Geschehen, das es nicht wirklich versteht, lieferte seinerseits die Vorlage für Ian McEwans vor drei Jahren erschienenen Roman "Abbitte". Die Parallelen sind unübersehbar.

Leslie Poles Hartley (1895-1972) veröffentlichte an die 30 Romane und Bände mit Erzählungen. Keiner davon reicht an "The Go-Between" von 1953 heran, in dem er eine Vergangenheit in schwelgerischen Farben wieder belebte, die schon ein halbes Jahrhundert zurücklag. Wie sein kindlicher Held, fühlte sich auch Hartley nie richtig zugehörig, zunächst zu den Söhnen alteingesessener adeliger Familien in den feinen Internaten, die er besuchte, später als Schriftsteller und Literaturkritiker, der in den einschlägigen Zirkeln nie richtig Fuß fasste. Virginia Woolf nannte ihn "fade", andere einen "Langweiler".

"The Go-Between", den Joseph Losey 1970 nach einem Drehbuch von Harold Pinter mit Julie Christie und Alan Bates meisterhaft verfilmte, wurde 1955 zum ersten Mal, allerdings unvollständig, ins Deutsche übersetzt und ist seit langem vergriffen. Der Züricher Verleger Urs Kummer hat diesen traurig schönen Entwicklungsroman neu entdeckt und in einer vervollständigten Übertragung von Adrian Stokar mit einem kenntnisreichen und klugen Vorwort des Henry-James-Experten Colm Toibin wieder zugänglich gemacht. Ein zauberhaftes, schwebend leichtes Lesevergnügen.

Rezensiert von Edelgard Abenstein

Leslie Poles Hartley: The Go-Between
Aus dem Englischen von Maria Wolff, revidiert und ergänzt von Adrian Stokar Edition Epoca, Zürich 2008
400 Seiten, 24,90 Euro