Von der Liebe zweier Schwestern

Von Vladimir Balzer · 14.05.2007
Susan Fletcher ist in der englischsprachigen Welt keine Unbekannte. Als sie vor zwei Jahren ihren Debütroman "Eve Green" vorlegte, war die Kritik begeistert. Sie war damals gerade 24 und erzählte schon wie Jane Austen. Ja, wie könnte man das nennen? "Gefühlsliteratur"? "Empfindlichkeitsprosa"?
In jedem Fall bekam Susan Fletcher für ihr erstes Buch den renommierten Whitbread First Novel Award und wurde damit plötzlich Teil des internationalen Literaturbetriebs. Und der braucht neues Futter. Alles wartete auf Roman Nummer zwei. Und hier ist er: Austernfischer, Oystercatchers. Die Geschichte zweier Schwestern. Vor allem aber die Geschichte von Moira, einem der stillsten Mädchen, das man an Englands Atlantikküste je gesehen hat. Sie lebt in sich selbst zurückgezogen und wird damit zur Außenseiterin.

Vollends in sich selbst zieht sie sich zurück, als sie mit elf in ein Eliteinternat kommt – ihre Eltern wollten es so, und das nicht, um sie zu quälen, sondern weil sie sie tatsächlich lieben und ihr – wie heißt es so schön – das Beste bieten wollen. Moira aber sieht es so: Ihre Eltern schicken sie weg wegen ihrer jüngeren Schwester Amy, der sie sich nun mehr widmen wollen als ihr. Sie verwünscht ihre Schwester, die Konkurrentin. Und dann – viel später - passiert ein Unfall, nach dem Amy ins Koma fällt. Die inzwischen erwachsene Moira besucht sie im Krankenhaus und beginnt zum ersten Mal mit ihrer ungeliebten Schwester zu reden – da, wo es schon zu spät ist. Im Koma hört Amy kein Wort. Zumindest gibt sie keine Antworten. Jetzt erst spricht Moira mit ihr. Gerade jetzt! Es wird ein Monolog, ein Versuch, sich zu erinnern. Vielleicht auch ein Versuch, Schwesternliebe zu empfinden.

Susan Fletcher gibt sich und ihre Figuren dabei ganz der gepflegten Melancholie der Erinnerung hin, immer wieder taucht im Buch die Frage auf: Erinnerst du dich? Wie Rückblenden in einem Film. Oder um es mit einem oft kolportierten Satz zu sagen: Wir sind, was wir erinnern.

Die junge englische Autorin hat einen über fast 400 Seiten komplett ausformulierten Roman geschrieben, da ist leider nichts verkürzt, kaum ein Detail ausgelassen. Manchmal gewinnt das Buch dadurch an Sinnlichkeit, ihre Naturbeschreibungen sind von bezwingender Plastizität.

Und dann wieder verfängt sie sich im Ton - Fletcher erzählt manchmal nur noch, um den Ton zu halten. Wie ein Popsong, der schön klingt, aber ein bisschen zu lang geraten ist.

Es ist alles ein bisschen zu perfekt, ein bisschen zu melancholisch, ein bisschen zu schön. Aber warum auch nicht? Ein Roman, auf den man sich einlassen kann ohne besondere Ansprüche an Sprache und Stil zu stellen, ohne zu erwarten, dass man hier ein ästhetisches Wunder erleben wird. Susan Fletcher ist eine Romanschreiberin aus der Werkstatt der Romanschreiberinnen. Sie hat creative writing studiert, sie weiß, wie man die Sätze setzt, ohne was grundlegend falsch zu machen, sie weiß, wie sich Situationen anfühlen müssen – wie sie schmecken, wie sie riechen, woran sie einen erinnern - "Das Meer riecht nach frischer Luft und Gischt, auf dem Dach des Hauses sind Möwen."

In dieser Hinsicht ist dieser Roman bezwingend, weil er handwerklich so perfekt ist. Fragt sich nur: was bleibt in dem Moment, in dem man das Buch zuschlägt? Die berühmten zehn Minuten danach – wie viel bleibt, wie viel nicht?
Ein netter Roman.

Vorgestellt von Vladimir Balzer

Susan Fletcher:
Austernfischer,

Roman
Deutsch von Malte Friedrich,
Berlin Verlag
19,90 Euro.