Von der bösen Hexe zur lieben Oma

Moderation: Susanne Burg · 14.07.2013
"Paulette" ist eine Komödie, doch sie behandelt sehr ernste Themen: Altersarmut, Drogen und Rassismus. Im Interview sprechen Regisseur Enrico und Hauptdarstellerin Lafont über die Dreharbeiten und wie sie mit diesem Film die französische Gesellschaft aufmischen wollen.
Susanne Burg: Und ich begrüße ganz herzlich den Regisseur des Films von "Paulette", Jérôme Enrico, und die Hauptdarstellerin Bernadette Lafont. Bonjour!

Jérôme Enrico: Bonjour!

Bernadette Lafont: Bonjour!

Burg: Madame Lafont, Ihre Figur ist anfangs unglaublich rassistisch, Paulette schimpft über alle Ausländer, die ins Land kommen, sie ist voller Vorurteile, böse, aber auch unglaublich schlau, sehr taff, witzig, ein echter kleiner Giftzwerg. Wenn man Sie da so sieht, denkt man automatisch, diese Rolle muss Ihnen Spaß gemacht haben, da kann sich eine Schauspielerin so richtig austoben. Aber bei allem Spaß, was waren die Herausforderungen bei dieser Rolle?

Lafont: Ja, es ist, wie Sie es schon selber erwähnt haben: Die Herausforderung besteht natürlich darin, dass das am Anfang eine Frau ist, die unglaublich bösartig ist, aber das Drehbuch ist natürlich so angelegt, dass es eine Veränderung gibt bei dieser Frau. Das Interessante an dieser Figur ist aber auch etwas anderes. Weil man hat diese Figur, die ich da spiele, sehr mit einem Film verglichen, der in Frankreich sehr, sehr bekannt ist, von Etienne Chatiliez, "Das Leben ist ein langer, ruhiger Fluss" hat er gemacht und er hat danach einen Film gemacht über eine böse Alte, auf Französisch heißt der "Tatie Danielle". Diese Alte war einfach nur böse und hatte eigentlich gar keinen Grund, böse zu sein, weil sie hatte eigentlich genug Geld. Und in einer gewissen Form war diese Bosheit relativ unmotiviert. Und bei Paulette ist da ja etwas ganz, ganz anderes, die ist am Anfang bösartig auch, weil sie arm ist und weil sie fast auf der Straße landet. Und wenn es nicht diese unglaubliche Glück gäbe, was in Komödien eben manchmal passiert, dass sie plötzlich an dieses Haschisch gerät, dann wäre sie wahrscheinlich auch auf der Straße gelandet. Wie man das heute auch in Frankreich wirklich sieht, es gibt viele alte Menschen, die auf der Straße leben. Und so langsam lernt sie eben, das zu lieben, was sie ursprünglich nie gemocht hat.

Burg: Monsieur Enrico, wir haben eben schon darüber gesprochen, es ist ja eine Komödie. Aber im Grunde genommen geht es um sehr ernsthafte Themen, um Altersarmut, um Drogen, um Rassismus. Warum wollten Sie daraus eine Komödie machen?

Enrico: Wir haben daraus eine Komödie gemacht, weil es wirklich oft so ist, dass sich die tragischsten Themen als bester Komödienstoff entpuppen. Und diese Geschichte, die wir da erzählen, basiert wirklich auf einem wahren Fall. Wir haben das als Ausgangspunkt genommen, um die französische Gesellschaft so ein bisschen aufzumischen und eben diese Geschichte in Form einer Komödie zu erzählen.

Burg: Wie genau wollten Sie die französische Gesellschaft aufmischen?

Enrico: Also, das soll jetzt nicht in irgendeiner Form prätentiös klingen, aber es gibt eben diese Form der Komödien in Frankreich relativ selten, wie wir sie jetzt gemacht haben, weil wir haben eigentlich eine soziale Komödie gedreht. Und da haben wir uns inspiriert an italienischen Komödien, Nachkriegskomödien mehr so aus den 50er-Jahren, all diese Filme von Dino Risi, Ettore Scola oder auch von Comencini, die menschliches Drama irgendwo erzählt haben, aber auf eine leichte Form. Und in französischen Komödien ist es entweder so, entweder man lacht unglaublich doll, oder es gibt eben auch französische Filme, die dann gleich auch sehr bitter werden und sehr düster werden, aber das dazwischen, das fehlt so ein bisschen im französischen Kino.

Burg: Es ist interessant, dass Sie das sagen, weil hier fällt einem natürlich auch sofort ein anderer riesiger Erfolg aus Frankreich ein, "Ziemlich beste Freunde", eine Komödie, aber die ja auch sehr ernste Themen durchaus mit behandelt wie zum Beispiel Behinderung und Rassenbeziehungen, Rassismus et cetera. Sehen Sie sich auch durchaus in dieser Tradition?

Enrico: Nun, es freut mich natürlich, wenn Sie diese beiden Filme in irgendeine Beziehung setzen. Unser Film ist natürlich ein sehr viel bescheidenerer Film, aber es stimmt schon, wenn Sie so wollen, ist das natürlich ein gewisses Genre, was mich viel mehr interessiert, was nämlich die Lebensrealitäten mit einbezieht in eine Komödie. Und es sind hier alltägliche Probleme, die man sieht, und das wollen die Zuschauer, glaube ich, auch langsam sehen, etwas, was mit ihrem Leben etwas zu tun hat. Und Großmütter, die den Müll durchwühlen, die durch Mülltonnen gehen, das sehe ich leider jeden Tag.

Burg: Der Film ist ja fast in gewisser Weise wie ein Märchen, zumindest die Figur von Paulette. Sie ist eine böse Hexe, die alle anderen hasst, wandelt sich dann aber zu einer liebevollen Oma. Das Ganze spielt ja vor dem Hintergrund auch der Drogendealerszene in den Banlieues, die Drogendealer, die bleiben in gewisser Weise böse, können aber eigentlich gegen die Energie und die Cleverness von Paulette gar nicht an, sie trickst alle aus. Beim Schreiben des Drehbuchs, hatten Sie nicht manchmal Sorge, dass die Drogendealerszene letztlich dann doch ein bisschen lustig-harmlos da steht?

Enrico: Da bin ich natürlich nicht ganz einverstanden, also, so lieb sind diese Drogendealer nun auch nicht. Die sind schon gewalttätig, schauen Sie mal, diese alte Dame wird richtig böse zusammengeschlagen und das ist etwas, was man in Komödien so eigentlich selten hat. Aber was natürlich wahr ist, ist, ich wollte niemanden in diesem Film wirklich richten oder werten oder beurteilen. Aber das habe ich auch ein bisschen aus diesen italienischen Komödien übernommen, die eben ähnlich waren, und da hat auch der Verleiher beispielsweise ziemlich große Angst vor gehabt, ob das Publikum einer Figur folgen wird, die rassistisch ist, die im Müll wühlt, die Drogen verkauft. Und wir haben gesagt, ja, das Publikum wird dieser Figur folgen. Und ich glaube, wir haben recht gehabt.

Burg: Bernadette Lafont, wenn man Sie zum Beispiel in der U-Bahn-Unterführung mit Drogen dealen sieht, wenn Sie dann da stehen und flüsternd sagen "Hasch, Hasch, Hasch", ist das unglaublich komisch, gleichzeitig ist das ja auch wirklich eine ernste Situation, in der sich Paulette in dem Augenblick befindet. Wie haben Sie es geschafft, trotzdem eine Glaubwürdigkeit in die Figur zu bringen, wie haben Sie diesen Spagat hinbekommen?

Lafont: Diese Szene, die Sie da gerade erwähnt haben, in der Metro, das war schon auch eine Szene, die mir sehr viel Spaß gemacht hat, weil wenn Sie das erste Mal da in dieser Unterführung von der U-Bahn steht und ihren ersten 20-Euro-Schein verdient und praktisch daran riecht, dann wird diese Frau wieder total lebendig, weil sie plötzlich durch den Handel ihre Würde wieder erlangt und weil sie plötzlich wieder eigenes Geld verdienen kann. Geld ist ein Motor für sie und sie sagt es immer wieder, ich bin eine gute Geschäftsfrau gewesen, und sie ist eine gute Geschäftsfrau! Und dann spielt es letztendlich keine Rolle, ob sie auf legale oder illegale Weise ihr Geld verdient, weil Geschäfte kennen eben oft keine Moral. Und ich habe das sehr gerne gespielt!

Burg: "Paulette", so heißt der neue Film von Jérôme Enrico, bei der die Schauspielerin Bernadette Lafont die Hauptrolle spielt. Sie sind zu Gast hier im Deutschlandradio Kultur, im "Radiofeuilleton". Monsieur Enrico, die Filmografie von Bernadette Lafont ist unglaublich lang und bedeutend, sie hat in über 170 Film- und Fernsehproduktionen mitgespielt, sie war eins der großen weiblichen Gesichter der Nouvelle Vague, hat mit Claude Chabrol, mit Francois Truffaut gespielt, in "Die Mama und die Hure" von Jean Eustache. Können Sie sich noch erinnern, wann Sie das erste Mal Bernadette Lafont wahrgenommen haben, und was schätzen Sie persönlich an ihr als Schauspielerin?

Enrico: Ja, ich erinnere mich sehr gut an unser erstes Treffen, das war in einem Café, das heißt "L’étoile manquant", also "Der Stern, der fehlt". Und Bernadette hatte das Drehbuch bei und sie blätterte die ganze Zeit rum und deutete auf Sachen im Drehbuch, die ihr sehr gefallen haben. Und natürlich, es ist, wie Sie es schon erwähnt haben, natürlich habe ich sie in Filmen wie "La maman et la putain" gesehen, ich habe sie in diesem Film gesehen von Nelly Kaplan, "La fiancée du pirate", oder in dem Film von Truffaut, "Ein schönes Mädchen wie ich". Und wenn Sie so wollen, und Bernadette sagt es immer wieder selber, ist diese Rolle von Paulette fast wie eine Weiterführung dieser sehr unkonventionellen Frauenrollen, die sie damals gespielt hat. Man könnte wirklich sagen, das ist Paulette 30 Jahre später. Und als ich Bernadette eben das erste Mal sah in diesem doch sehr dunklen Café, wie sie da die Seiten umgeblättert hat, das ist etwas Unvergessliches.

Burg: Sie haben bei Truffaut und Chabrol häufig sehr sinnliche, selbstbewusste, verführerische Frauen gespielt, die sich wie im schon erwähnten "Ein schönes Mädchen wie ich" von Truffaut auch gerne mal der Männer bedient. Aus heutiger Sicht, wie modern, wie fortschrittlich waren diese Frauenrollen?

Lafont: Das sind natürlich Frauenfiguren, die nicht wirklich verwöhnt waren. Die kamen aus einem sozialen Umfeld wie beispielsweise in dem Film von Nelly Kaplan, da ist es eine Zigeunerin, oder in dem Film von Truffaut ist es ein Mädchen, was irgendwie aus dem Dorf kommt, mit einem Alkoholiker als Vater. Und diese Mädchen haben eigentlich nur etwas, was sie einsetzen können, und das ist ihr Körper, und die sind ziemlich hübsch. Und das ist sozusagen der Motor ihres Handelns. Und natürlich, Regisseure wie Nelly Kaplan oder auch Francois Truffaut, die waren natürlich intelligent, die haben sich natürlich was dabei gedacht, da war natürlich eine Geschichte, die dahintergesteckt hat, ein gewisser auch sozialer Hintergrund, der dabei war. Und das sind natürlich Frauen gewesen, die auch über eine gewisse Freiheit verfügt haben, die vielleicht heute eben Frauen haben, die es eben schaffen, gleichzeitig Politikerin zu sein und ihr ganzes Leben auch sonst unter einen Hut zu bekommen. Und die Feministinnen haben natürlich diese Frauenfiguren, die ich damals gespielt habe, auch sehr gemocht, und es ist auch kein Zufall, dass ich dann später in einem Film von Christian Rochefort sozusagen auch die Mutter der Feministinnen beispielsweise gespielt habe.

Burg: Die Nouvelle Vague, war das für Sie aus heutiger Sicht ein anderes Kino, hat das aus heutiger Sicht auch noch Gültigkeit?

Lafont: Wert, weiß ich nicht, aber auf jeden Fall hat es gezählt in der Geschichte des Kinos, das war schon eine sehr, sehr wichtige Epoche. Aber Sie dürfen nicht vergessen, es gibt so Dinge, die kehren dann halt immer wieder, in Zyklen. Und die Nouvelle Vague war in erster Linie erst mal eine technische Revolution, weil es die Möglichkeit gab, auf Filmmaterial zu drehen, was sehr viel lichtempfindlicher war, man konnte eben draußen drehen und es gab auch andere Kameraleute, die das gedreht haben, die eher von der Reportage kamen wie Raoul Coutard beispielsweise. Und heute haben Sie eine weitere technische Revolution und das ist die digitale Revolution, wo man eben auch mit ganz anderen Mitteln plötzlich Filme drehen kann. Und was dahintersteckt, sind einerseits eben neue Produktionsmittel, aber natürlich darf man auch nicht die Schöpfer vergessen, die sich natürlich sehr viel dabei gedacht haben.


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.