Von der Angst, sich zu erkennen

25.10.2012
Les Murray ist als Lyriker bekannt und ins Deutsche übersetzt. Mit "Der Schwarze Hund – Eine Denkschrift über die Depression" hat er nun einen autobiographischen Essay vorgelegt, in dem er sich auseinandersetzt mit seiner Kindheit und mit seinen Ängsten: durchschlagend in der Metaphorik, zupackend in der Sprache.
Seit 1965 veröffentlicht der im australischen Outback geborene Les Murray Gedichte. Seine Lyrik wird in Australien mittlerweile an Schulen und Hochschulen gelehrt, die Literaturnobelpreisträger Joseph Brodsky und J.M.Coetzee begeisterten sich für sie und Murray gilt - spätestens seit der Veröffentlichung seines grandiosen Versepos‘ "Fredy Neptune" - selbst als Kandidat für die höchste literarische Auszeichnung. Alles in Butter, sollte man meinen, doch dem ist nicht so. Davon erzählt Murrays schmaler Band "Der schwarze Hund". In einem schonungslosen, autobiographischen Essay, einem Nachwort und in fünfundzwanzig Gedichten berichtet der Autor vom Leben mit seiner Depression und ihren Ursprüngen.

Les Murray stellt eine Verbindung her zwischen individueller Geschichte und gesellschaftlichen Verhältnissen. Er ist aufgewachsen in einer nahezu archaischen Welt, geprägt von emotionalem und materiellem Mangel: Im australischen Busch, unter Landarbeitern und Bauern. Sexualität gilt als etwas Schmutziges, Gewalt ist an der Tagesordnung, die Männer in Murrays Familie sind bekannt für ihre Wutanfälle. Seine Mutter wurde im Alter von fünfzehn Jahren Halbwaise, sein Vater ist gezwungen, unentgeltlich als Holzfäller und Ochsenführer für Murrays Großvater zu arbeiten. Er trinkt und erzieht seine Kinder mit der Peitsche. Als die Mutter nach mehreren Fehlgeburten stirbt, wird der Vater depressiv, derweil der junge Murray sich als Letztgeborener die Schuld an ihrem Tod gibt. Auf der Highschool wird er gehänselt, er ist korpulent und leidet - ohne es zu wissen - unter dem Asperger-Syndrom.

Viele Jahre später, er hat in Sydney studiert und als Übersetzer an der Universität von Canberra gearbeitet, zieht er, knapp fünfzigjährig, mit seiner Familie wieder auf den väterlichen Hof. Bei einer Lesung in dieser Gegend erinnert ihn eine ehemalige Schulkameradin an den Spitznamen, den sie ihm vor mehr als dreißig Jahren gegeben hatte.

"Innerhalb von zwei Tagen begann ich zu zerfallen", heißt es in dem Essay. Weinkrämpfe, Panikattacken, sensorische Störungen bemächtigen sich des Dichters, tägliche Scheinherzinfarkte. Er erlebt Perioden "hilflosen, bodenlosen Elends", während sein Hirn "vor einem Wirrwarr von Dingen überkochte", der ihn an "in reinem Schmerz marinierten, gehäckselten Seetang" erinnerte.

Murray wird medikamentiert und stellt sich seiner persönlichen, inneren Geschichte: Schuldgefühle, Zorn, Angst, unterdrückte Sexualität und Verbitterung kommen zum Vorschein - und zur Sprache, obwohl Murray es immer abgelehnt hatte, Dichtung als persönliche Therapie zu benützen. Er schreibt nun: "Ist man krank genug, nimmt man jedes Gegenmittel, das zur Verfügung steht."

Eigenwillig behauptet der Dichter sich in seinem Anders-Sein. Mal sanft und verletzlich, mal aufbegehrend, aggressiv. Zupackend ist seine Sprache, durchschlagend seine Metaphorik. In Murrays Versen übertragen sich sprachlich Kraft und Sensibilität desjenigen, der keine Angst hat, sich selbst (an)zu erkennen, der einen klaren Blick gewonnen hat, auf eigene Unzulänglichkeiten und Verfehlungen, wie auf familiär- gesellschaftliche Umstände, der frei von Zeitgeistideologie und sozial-politischem Gruppendruck seinen Weg geht, der das eigene Abweichen nicht mehr als Makel erlebt.

Besprochen von Carsten Hueck

Les Murray: "Der schwarze Hund. Eine Denkschrift über die Depression"
Aus dem Englischen übersetzt von Margitt Lehbert, Edition Rugerup, Berlin/Hörby 2012, 89 Seiten, 17,90 Euro

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