Von der Abhängigkeit und der Rohheit

Rezensiert von Frank Meyer · 12.05.2006
Der US-Autor Iain Levison porträtiert sich selbst in "Abserviert" als "modernen Tom Joad" und zieht damit eine Parallele zur Zeit der Weltwirtschaftskrise. Tom Joad ist ein verarmter Farmer und Wanderarbeiter aus dieser Zeit, die zentrale Figur aus John Steinbecks Roman "Früchte des Zorns". Doch Levison ist kein einfacher Farmer, sondern ein intelligenter Hochschulabsolvent, der dennoch nicht im Arbeitsleben Fuß zu fassen vermag.
Iain Levison steckt in einem Berg von Fischen, ringsherum zappelnde, springende, unzählige Fische, sie reichen ihm bis an die Schultern. Nein, das ist keine Szene aus einem bizarren Traum, das ist die Wirklichkeit. Der Wanderarbeiter Iain Levison schuftet am Fließband auf einem Fischverarbeitungsschiff vor Alaska. Da schickt ihn sein Vorarbeiter in einen leeren Raum mit stählernen Wänden, ein großer Trichter führt von dort hinaus auf ein Förderband. Iain soll die Fische auf das Förderband schaufeln.

Was ihm der Vorarbeiter nicht sagt: Wie viele Fische auf ihn zukommen werden. Als der Vorarbeiter weg ist, öffnet sich eine riesige Luke über dem Raum, ein Fangnetz schwebt heran, es wird geöffnet und da kommen sie, tonnenweise Fische. Iain kämpft sich frei, mit den Füßen, den Armen, zum Schluss mit einer Schaufel drängt und schiebt und quetscht er die Fische durch den Trichter. Als er den Berg weggeschaufelt hat, kommt das nächste volle Netz.

Bis zu den Schultern im Fisch, das ist die eindrucksvollste Szene aus Iain Levisons Arbeitsbericht "Abserviert". Levison ist heute Schriftsteller, davor hat er sich zehn Jahre lang mit einfachen Jobs durchgeschlagen. Das waren 42 Arbeitsstellen in sechs Bundesstaaten, dreißig davon hat er selbst gekündigt, bei neun Jobs wurde er gefeuert, an die drei übrigen hat er jede Erinnerung verloren. Iain Levison porträtiert sich selbst als "modernen Tom Joad" und zieht damit eine Parallele zur Zeit der Weltwirtschaftskrise. Tom Joad ist ein verarmter Farmer und Wanderarbeiter aus dieser Zeit, die zentrale Figur aus John Steinbecks Roman "Früchte des Zorns".

Aber es gibt einen wichtigen Unterschied: Iain Levison ist kein einfacher Farmer, sondern ein intelligenter Hochschulabsolvent, der dennoch nicht im Arbeitsleben Fuß zu fassen vermag. Sein Collegeabschluss in Englisch ist ihm nicht nur keine Hilfe, sondern ein Hindernis bei der Suche nach einer erträglichen Arbeit. Seine Erfahrungen zeigen, wie brutal die Arbeitswelt auch für die akademisch Gebildeten geworden ist.

Kochassistent, Kellner, Umzugshelfer, Ölfahrer, Hilfselektriker, das sind Stationen der Wanderarbeiterkarriere, von der Levison erzählt. Er berichtet mit sarkastischem Witz von der Abhängigkeit und der Rohheit, der sich Arbeitskräfte wie er ausgesetzt sehen. Sie werden von einem Tag auf den anderen gefeuert, weil der nächste Jobanwärter für ein paar Dollar weniger arbeitet. Sie werden von ihren Managern beleidigt und gleichzeitig auf unbedingte Freundlichkeit gegenüber den Kunden getrimmt. Sie werden aufs Kreuz gelegt, manchmal schon bei den Stellenanzeigen. Levison hat mehrere Geschichten zu bieten, bei denen mit geschickt formulierten Stellenanzeigen nur neue Gutgläubige für teure Weiterbildungsseminare gesucht werden. Die Unverschämtheit dieser völlig legalen Betrügereien bringt den Autor besonders in Rage.

"Das wahre Problem liegt darin", - resümiert Levison am Ende seines Buches - "dass wir alle entbehrlich sind." Persönlichkeit, Einsatz und Loyalität sind nichts wert, es zählt allein der Umsatz der Firma. Das ist die Erfahrung, von der Iain Levison mit seinen vielen Job-Geschichten erzählt. In den USA sind in der letzten Zeit einige Bücher erschienen, die sich mit der Klasse der "working poor" beschäftigen, zum Beispiel Ben Cheevers "Selling Ben Cheever" oder Barbara Ehrenreichs "'Nickel and Dimed" (deutscher Titel: "Arbeit poor. Unterwegs in der Dienstleistungsgesellschaft").

Ben Cheever ist ein angesehener Schriftsteller, Barbara Ehrenreich eine etablierte Publizistin, beide sind als Undercover-Beobachter in Welt der Billig-Jobs abgetaucht. Bei Iain Levison liegt der Fall anders, er hatte keine gesicherte Existenz in der Hinterhand. Die Ausweglosigkeit seiner Existenz "als Humankapital" gibt seinen Erzählungen die grimmige Wut und den bösen Witz, die sie über manche Wiederholung und manchen Gemeinplatz hinweg zum Leseerlebnis machen.


Iain Levison: Abserviert. Mein Leben als Humankapital
Aus dem Englischen von Hans Therre.
Matthes & Seitz, Berlin 2006, 256 Seiten