Von "Carmina Burana" bis Gospel

Von Andre Zantow · 18.06.2010
In Fellbach bei Stuttgart gibt es eine Schule, in die Eltern oft lieber gehen als ihre Kinder. Und das aus gutem Grund: Schließlich müssen sie hier nicht die Schulbank drücken, sondern dürfen singen. Etwa 60 Sänger treffen sich ein Mal in der Woche.
Die letzten Verspannungen sind gelöst. Der Arbeitstag weicht langsam aus den Gliedern und aus den Stimmbändern. Hier noch ein Räuspern, da ein Gähnen. Es ist Montagabend.

Probenzeit für den Elternchor des Gustav-Stresemann-Gymnasiums in Fellbach nahe Stuttgart.

Nele Gerhard ist ganz in ihrem Element. Gibt Anweisungen. Hört genau hin. Keine Unregelmäßigkeit entgeht der engagierten Musiklehrerin, die Lust machen will auf Musik. Auf ihren Chor.

Nele Gerhard: "Viele denken, oh, sie können ja gar keine Noten lesen, oh, sie können ja gar nicht singen. Aber die entdecken dann, dass Singen für sie vielleicht doch etwas ganz Tolles ist."

Seit 10 Jahren leitet die 43-jährige blonde Frau mit den wachen Augen den Elternchor und legt auch das Repertoire fest, das von Lehrern, Polizisten, Informatikern, Richtern und Angestellten gesungen wird.

60 musikalische Laien sind es – im Alter zwischen 16 und 60. Sie proben jeden Montag. Immer um acht. Und immer im Musiksaal. Da ist die Schule leer. Die Schülerinnen und Schüler sind zu Hause. Ihre Eltern aber nicht. Verdrehte Welt.

"Ich war schon früher im Schulchor und dann kam mein Sohn hier aufs Gymnasium und dann wollt ich einfach dabei sein, weil mir das Spaß macht."

Wie bei fast allen hier gehen die eigenen Kinder ans dazugehörige Gymnasium, auch wenn das nicht unbedingte Voraussetzung für die Chormitgliedschaft ist. Der Spaß am Singen dagegen schon.

"Das ist eine ganz tolle Sache, weil man einfach auch durch das Singen die Möglichkeit hat, voll abzuschalten und das ist das, was ich sehr positiv finde."

Gegründet wurde der Elternchor des Gustav-Stresemann-Gymnasiums vor zehn Jahren. Chorleiterin Nele Gerhard erinnert sich:

"Es gab schon einen Elternchor an der Schule, der war allerdings eingeschlafen, als ich dahin kam. Aber ein Vater, das werde ich nie vergessen, hat mich da angesprochen: Ach, könnten wir doch nicht mal wieder einen Elternchor machen? Und dann haben wir uns gedacht: Ja, ist wirklich eine tolle Sache. Und ich hab es auch nie bereut."

Nele Gerhard ist der Kopf und das Herz des Elternchores. Als Musiklehrerin betreut die lebenslustige Frau an der Schule noch vier weitere Chöre. Aber der Elternchor nimmt für sie allein schon aus musikalischen Gründen eine Sonderrolle ein:

"Ich hab' zum Beispiel in meinem Mittelstufenchor - das ist Klasse sieben bis neun -, da hab' ich auch so um die 60. Aber da bietet mir der Elternchor rein vom Sound her schon mehr."

Der Sound kommt auch bei den Mitgliedern gut an, wohl deshalb bleiben viele Eltern dem Chor treu, auch wenn ihre Kinder schon jahrelang aus der Schule raus sind. Man mag sich eben. Die Stimmung im Chor ist dementsprechend gut.

Es wird viel gelacht – auch während der Proben. Das hat Sogwirkung – auch auf ehemalige Schüler und Schülerinnen. So wie bei Sarah Schneck und ihrem Vater Andreas Schneck.

Andreas Schneck: "Also, ich nehme teil, weil meine Tochter schon seit der fünften Klasse im Chor singt und sie immer gesagt hat: 'Papa, geh mal auch mit.' Und wo sie dann in der elften Klasse war, hab ich dann gesagt, okay, geh ich dann auch mal mit und seitdem bin ich jetzt dabei. Das ist jetzt vier Jahre her."

Sarah Schneck: "Er macht sich ziemlich gut. Er hat auch schon ein ganz kleines Solo gehabt beim letzten Musical. War richtig toll."

Gezielt sucht Nele Gerhard jedes Jahr nach einem neuen Großprojekt für ihren vielstimmigen Chor. Darunter waren schon klassische Aufführungen wie "Carmina Burana", Themenkonzerte zu lateinamerikanischer Musik, aber auch Musicals wie "Oliver" oder "Anatefka". Diese Vielseitigkeit schätzen alle, sagt Anita Heidt. Sie ist seit Anfang an dabei und singt als Sopran-Zwei:

"Wir haben zum Beispiel vier Musicals schon gemacht. Wir haben schon klassische Stücke gemacht. Wir haben schon in zehn Sprachen gesungen. Wir kennen die Sprachen gar nicht, in Russisch oder was weiß ich was. Wir üben das dann ein und die Frau Gerhard motiviert einen auch ganz arg. Und deswegen denk ich sind wir alle so gern dabei."

Dieses Jahr steht eine Gospel-Messe auf dem Plan. Einfach ist das nicht. Konzentriert lauschen die Frauen und Männer immer wieder auf die Anleitungen ihrer Chorleiterin. Nele Gerhard lässt nicht locker. Jeder Ton muss perfekt sitzen. Schließlich steht bald der Auftritt bevor: Am 17. Juli in der katholischen Kirche "Christus-König" in Oeffingen ist Premiere. Es ist die größte Kirche der Region - über 1000 Besucher werden erwartet.

Nele Gerhard: "Das Schönste ist eigentlich das richtige Konzert. Das ist eigentlich überhaupt der Höhepunkt für alle aber auch. Da ist man so unter Spannung, da ist so eine tolle Stimmung, weil jeder versucht in dem Moment sein Bestes zu geben und da knistert es und da kriegt man Gänsehaut."


Immer mehr Menschen in Deutschland singen im Chor. In Zusammenarbeit mit der Arbeitsgemeinschaft deutscher Chorverbände (ADC) stellt Deutschlandradio Kultur jeden Freitag um 10:50 Uhr im Profil Laienchöre aus der ganzen Republik vor: Im "Chor der Woche" sollen nicht die großen, bekannten Chöre im Vordergrund stehen, sondern die Vielfalt der "normalen" Chöre in allen Teilen unseres Landes: mit Sängern und Sängerinnen jeden Alters, mit allen Variationen des Repertoires, ob geistlich oder weltlich, ob klassisch oder Pop, Gospel oder Jazz und in jeder Formation und Größe.