Von Berlin nach Galiläa

Heimat gibt es nur zweimal

54:39 Minuten
Am Straßenrand steht Ofer Waldmann mit seiner Tochter Huckepack.
Ein schwieriger Abschied: Ofer Waldman und Tochter Ori bei einem letzten Spaziergang in Berlin. © Natalia Smirnova
Von Ofer Waldman · 13.04.2020
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Nach fast 20 Jahren in Deutschland geht Ofer Waldman zurück nach Israel. Er wäre lieber geblieben, doch seine Frau hatte Heimweh. Vor allem die politische Lage in Israel findet er schwer erträglich. Schafft er es, dort wieder eine Heimat zu finden?
Berlin ist zum Anziehungspunkt für viele junge Israelis geworden. Auch den Musiker und Journalisten Ofer Waldman zog es Ende der 1990er-Jahre zum Studium in die deutsche Hauptstadt. 2009 ging er wieder nach Israel - um 2014 mit seiner Familie nach Berlin zurückzukehren. Für Ofer der Ort, an dem er sein wollte, auch die Kinder waren bestens integriert. Doch seine Frau Gili litt unter Heimweh. Irgendwann war ihre Sehnsucht zu groß, der Umzug unumgänglich.
Ofer und Gili Waldman in ihrer Berliner Wohnung. Gili trägt den jüngsten Sohn Jonathan auf dem Arm, Ofer die beiden Töchter Ori und Naama.
Ofer Waldman hatte sich für seine Kinder eigentlich eine Berliner Kindheit gewünscht.© Natalia Smirnova

"Im Sommer 2018 zog ich mit meiner Familie, der unbezwingbaren Sehnsucht meiner Frau Gili folgend, von Deutschland nach Israel. Man müsste sagen, wir zogen zurück, da wir Israelis sind. Doch für mich, Ofer Waldman, der den Großteil seines erwachsenen Lebens in Deutschland verbrachte, war der Umzug in eine Heimat, die sich radikal veränderte, von Furcht begleitet. Man muss sagen: ein ungewollter Umzug."

Ofer Waldman kehrt in ein Israel zurück, in dem konservativ-nationalistische Kräfte immer mehr die Oberhand gewinnen. Kaum jemand glaubt noch daran, dass eine friedliche Lösung des Konflikts zwischen Israelis und Palästinensern möglich ist. Ofer Waldman ist Vorsitzender der Deutschland-Sektion der NGO New Israel Fund, der sich für Menschenrechte und religiösen Pluralismus in Israel einsetzt.
Demonstration gegen das Nationalitätengesetz in Tel Aviv.
Fremd ist ihm die Heimat geworden, auch wenn es immer noch Menschen gibt, die gegen den nationalistischen Kurs der herrschenden Politiker aufbegehren wie hier in Tel Aviv.© Ofer Waldman

"Gestern bin ich mit einem Freund zu einer Veranstaltung von meiner NGO gefahren, drei palästinensische Israelis sind am Strand von Kirjat Chaim verprügelt worden von jüdischen Nationalisten. Jedenfalls gab es gestern so eine Art Solidaritätsveranstaltung mit ihnen in einem arabischen Städtchen nicht weit weg von hier. Und ich frage mich, ob meine israelische Realität so aussehen wird, so lauter Kundgebungen vom schrumpfenden Friedenslager in Israel. Soll ich jetzt den Modellisraeli spielen? Der Musterlinke, das habe ich oft genug in Berlin gemacht."

Zurückgegangen in ein Land, das ihn weder erwartet noch haben will. Was für ein Irrsinn, sagt Ofer Waldman. "Ich weiß nicht ob ich meine Frau beneiden soll, sie ist einfach zufrieden, wenn sie da ist, einfach glücklich, wenn sie in Israel ist, umgeben von den Ihren. Wer sind meine… wer sind meine? Ich rede ein Deutsch, das keine Muttersprache ist, aber ich sage immer, es ist meine erste Fremdsprache, es ist MEINE Fremdsprache."
Schwarz-Weiß-Porträtaufnahme von Gili Waldman mit großer Sonnenbrille bei einem letzten Spaziergang in Berlin. Im Hintergrund unscharf Ofer Waldman.
"Dir gefällt es, da zu sein, wo du fremd bist", sagt Ofer Waldmans Frau.© Natalia Smirnova

Gespräch zwischen Ofer und seiner Frau Gili über Heimat, Identität und Fremdheit
Ofer: Wieso fiel es mir schwer, nach Israel zu ziehen?
Gili: Wieso es dir schwerfiel? 1. Du willst in Deutschland sein. 2. Du willst nicht hier sein. Punkt.
Ofer: Wieso? Wieso will ich in Deutschland und nicht hier sein?
Gili: Warum du in Deutschland sein willst? Es tut dir gut, die Kultur, die Sprache, das Deutschsein. Dir gefällt es da zu sein, wo du fremd bist. Auch wenn du so eine Art Deutscher bist, bist du fremd. Du hast eine Distanz, die dir gut tut. Und in Berlin ist eine Kultur, wo jeder für sich ist. Das passt zu dir, du magst dich so, wie du in Deutschland bist. Und alles, was Israel, Familie, Identität angeht, wird zur Seite geschoben.
Ofer: Und wieso möchtest du nicht dort sein?
Gili: Es ist nichts Spezielles, ich möchte keine Migrantin sein, an einem Ort, der nicht mein Zuhause ist. Ich kann es nicht. Es ist eine Erfahrung von Fremdheit und Einsamkeit, es bringt mich um.
Ofer: Aber die Kinder? Hätten sie es dort nicht besser gehabt?
Gili: Absolut nicht. Sie haben hier ein besseres Leben.
Ofer: Wirklich?
Gili: Ja. Für ihre Identität und Zugehörigkeit ist es wichtig, da zu leben, wo sie hingehören, wo ihre Familie ist, wo Zuhause und auf der Straße die gleiche Sprache gesprochen wird, wo ihre Eltern Wurzeln haben. Und in Deutschland sitzt man sechs Monate im Haus, hier ist man ständig draußen, am Pool, am Strand, Wandern. Und ja, die Deutschen leben lieber allein. Unter sich. Das unterscheidet dich von mir. Für mich sind die Zugehörigkeit, die Familie, die sozialen Anbindungen am wichtigsten.

Ofer Waldmans Eltern sind beide in den 1940er-Jahren im Gebiet des heutigen Israel geboren. Die Großeltern stammen aus Ungarn, Polen und Rumänien. Keine "Jeckes" sind darunter, wie man die jüdischen Einwanderer aus Deutschland in Israel nennt.

Aus Ofer Waldmans Tagebuch
7. Februar 2019. Ich schreibe meine Dissertation über Thomas Brasch, sein Bild hängt hier über dem Klavier, neben den Bildern meiner Familie, er schaut irgendwohin, ich glaube, es ist ein Bild, kurz nachdem er in die BRD, also nach Westberlin ging. Er trägt eine Lederjacke, Bart, …ich glaube, er ist hier Mitte 30, der ist ein bissel jünger als ich. Er schreibt in seinem Tagebuch, 1973, also noch in der DDR, da ist er nicht mal 30, er ist 28. Und da schreibt dieser kluge Mann: "Könnte ich das sinkende Schiff verlassen, verwandelte sich meine Sehnsucht am Ufer in das staunende Gehabe eines Touristen. Meine Heimat ist das sinkende Schiff. Meine Sprache ist die Sprache des sinkenden Schiffes. Meine Gesten sind die Gesten eines Ertrinkenden. Meine Sprache ist den Küstenbewohnern nicht verständlich, weil sie eine alte Sprache ist. Sie ist den Insassen des untergehenden Schiffs nicht verständlich, weil sie vom Untergang spricht, den sie nicht bemerken." Was für ein kluger Mensch. Tja. Ich bin zu oft weggegangen, um mich heimisch fühlen zu können.

Wohnzimmer der Familie Waldman in Berlin: Ofer sitzt am Schreibtisch, gegenüber seine Töchter am Klavier.
Noch im deutschen Wohnzimmer: Ofer Waldman mit seinen Töchtern Ori und Naama.© Natalia Smirnova

"Ich bin gerade am Auspacken meiner Bücher, Unterlagen aus Deutschland. So haben sich die alten Jeckes, die alten deutschen Juden gefühlt, als sie nach Palästina immigriert sind. Vor 80 oder 90 Jahren und räumten kistenweise Goethe und Hesse, bei mir ist es auch DDR-Literatur, Brasch und Heym, zum Teil sind es Bücher meines Großvaters. Also, gegenläufige Gedächtnisse, das ist, ich würde sagen, Geschichtsphilosophie. Thomas Brasch, der schöne 27. September. Das ist aber ein feines Buch. So. Das sind Bücher von meinem Großvater, hier, 1916, Galgenlieder von Christian Morgenstern, Verlag von Bruno Cassirer, Berlin 1917. Wahnsinn! Dieses Buch ging von Wien nach Palästina, Jerusalem, dann in den Keller, dann zu mir nach Tel Aviv, dann mit mir nach Berlin und jetzt ins Galiläa."

Ein großer, grüner Möbelwagen hält vor dem Haus der Waldmans in Alonei Abba.
Zu oft weggegangen, um sich heimisch zu fühlen?© Ofer Waldman
In gewisser Weise deutsch sieht es auch am neuen Wohnort der Waldmans aus, dem 1000-Einwohner-Dorf Alonei Abba, auf halber Strecke zwischen Haifa und Nazareth in Galiläa. Denn gegründet wurde Alonei Abba Anfang des 20. Jahrhunderts von Nachkommen der deutschen "Templergesellschaft", die es "Waldheim" nannten.
Doch ihre Ansiedlung war nicht von Dauer. Als deutsche Staatsbürger wurden sie wie alle deutschen Templer in Palästina bei Beginn des 2. Weltkrieges von den damals hier herrschenden Briten abgeschoben. Zurückgeblieben sind ihre im deutschen ländlichen Stil gebauten, in Israel fremd wirkenden Häuser.
Das Wahrzeichen Waldheims ist eine evangelische Kirche, die mitten im Dorf steht. 1948, im Jahr der Staatsgründung, kamen die ersten jüdisch-israelischen Siedler hierher und nannten den Ort in Alonei Abba um.
Die nur notdürftig instandgesetzte Templerkirche in Adonei Abba.
Ein Stück deutscher Kultur in Israel: die Templerkirche in Adonei Abba© Ofer Waldman
Auch die Eltern von Ofer Waldman gehören zur Aufbaugeneration Israels: Sie haben die Staatsgründung 1948 als kleine Kinder erlebt - und die zahlreichen Kriege und Konflikte, in die der junge Staat verstrickt war. Etwa den Sechstage-Krieg 1967, den Israel gegen Syrien, Jordanien und Ägypten führte. Oder den Jom-Kippur-Krieg 1973 gegen Syrien und Ägypten, der Israel an den Rand des Untergangs brachte.

Gespräch zwischen Ofer und seiner Mutter Nitsa über israelische Identität seit 1948
Nitsa: Die Paraden am Unabhängigkeitstag in den Fünfzigern, als ich ein Kind war, waren sehr bewegend. Wir waren Teil von etwas Großem, Kraftvollem, und es gehörte uns! Wir sind die erste Generation Israels. Die meisten von uns wuchsen in Palästina auf. Der Staat war echt und gehörte uns! Wir waren eine Generation… viele Eltern meiner Freunde waren Holocaustüberlebende. Nachts hörte man die Schreie aus den Häusern, die eng beieinander standen. Und viele hatten eine Nummer tätowiert am Unterarm. Und als Kind schaust du hin, habe ich zumindest gemacht.
Ofer: Für mich ist der Staat Israel eine Selbstverständlichkeit. Ich kann mir die Angst vor einem Vernichtungskrieg wie 67 nicht vorstellen.
Nitsa: Eher der Krieg 1973, das Gefühl, es ist bald zu Ende. Auf dem Golan, in Ägypten. Ich war zuhause mit zwei kleinen Kindern, Papa war anfangs bei Jericho, danach am Suezkanal. Ich war ein halbes Jahr allein. Aber der Staat? Das hätte schlimm ausgehen können.
Ofer: Netanyahu und Konsorten missbrauchen das, was ihr uns beigebracht habt: der heilige Staat, Kämpfen nur aus Not, Schießen und Weinen. Mama, ich war auch berührt von den Militärparaden! Aber heute, irgendwie, ist mir die Begeisterung abhanden gekommen.
Nitsa: Ja, einige wollten aus messianischem Wahn alle Gebiete erobern und behalten.
Ofer: Ihr hättet die besetzten Gebiete Anfang der Siebziger zurückgeben sollen. Dieser ganze Staat ist auf einen Wir-wir-wir-Trip. Ich bin kein Teil davon. Das soll euer Modellstaat sein??!
Nitsa: Nicht eurer, unsrer!

Eine junge Kastanie mit leicht welken Blättern im Garten von Ofer Waldmans Haus.
Gedeiht sie im fremden Boden? Ofer Waldman will einen Kastanienbaum in seinem Garten haben.© Ofer Waldman

"2. April 2019. Mein größtes Projekt jetzt ist der Kastanienbaum, Esskastanie, die Esskastanie ist keine heimische Pflanze in Israel. Es ist ihr hier zu warm, und der Boden ist zu basisch wegen des Kalkgesteins. Und es führt dazu, dass man hier keine Kastanien sieht. Und trotzdem habe ich jetzt 4, 5 kleine Kastaniensetzlinge. Sie sind tatsächlich jetzt kleine, grüne, schöne Pflanzen geworden. In den nächsten Tagen werde ich sie aus ihrem Pflanzentopf in die Erde stecken und werde ihnen dann jeden Tag die erste Passage aus Hermann Hesses Narziß und Goldmund lesen über den Gast, der aus dem Süden kommt und geblieben ist, doch ausgediehen ist und es geschafft hat im fremden Boden zu überleben…
Eine Kastanie trägt Früchte, nur wenn sie einen richtigen Kälteschock im Winter bekommt. Ich bezweifle es, dass eine Kastanie in Galiläa, wo es hier im Sommer über 30 Grad wird und im Winter mal 0 Grad einen richtigen Kälteschock bekommt, es sei denn, ich übergieße sie im Januar jeden Morgen mit Eis aus dem Tiefkühlfach. Aber ich hoffe, dass sie wächst, die Esskastanie ihren Schatten spendet und mich jeden Morgen begrüßt, und dass sie jetzt, am Anfang des Frühlings, doch neues Leben findet. Wenn sie das schafft, dann schaffe ich es auch."

(Onlinetext: uko)
Das Manuskript zur Sendung können Sie hier als pdf-Dokument herunterladen.
Sie Sendung ist eine Wiederholung vom 9. September 2019.
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