Von Adelheid Wedel

Die "letzte Tinte" reicht offenbar noch lange - doch die Resonanz der Feuilletons auf das neue Gedicht von Günter Grass, diesmal über Griechenland, ist kaum nennenswert. Die FAZ analysiert den Umgang der europäischen Parteien mit der Wirtschaftskrise. Tenor: "Wer Wahlen gewinnen will, muss weiter lügen." Und die "Süddeutsche Zeitung" kommt zu dem Schluss, das Unbehagen über die Gestalt der europäischen Einigung habe die Intellektuellen erreicht.
Dirk Schümer veröffentlicht in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG kein Gedicht, aber sein Europa-Pessimismus übertrifft deutlich die Europa-Kritik von Günter Grass. Auch von Griechenland ist bei Schümer die Rede, aber nicht nur. Er sieht Italien, Frankreich, Dänemark, Belgien, die Niederlande, Spanien, Portugal und Irland im selben Boot. Und er wendet sich an alle Bürger Europas, macht ihnen Vorwürfe, beklagt die Verkommenheit der Parteien:

"Die Krise, die in Europa gerade erst begonnen hat, dreht sich längst nicht nur um die gemeinsame Währung und deren verheerende Wirkung auf verschiedene Volkswirtschaften. Auf einer tieferen Ebene wird eine grundlegende Instanz der modernen Demokratie immer tiefer in den Strudel gerissen: die politische Partei an sich."

Schümer sieht darin

"das erste Indiz einer systemischen Krankheit"

und fasst zusammen:

"In Wahrheit hat sich das Gesetz politischer Alternativen im Wettbewerb demokratischer Kräfte unter dem Diktat der Ökonomie erledigt. Die Parteien treten als Schatten ihrer einstigen Ideologien an, als personelle Zombies aus Zeiten, da es noch etwas zu verteilen gab."
Starke Worte sind das, die der Autor mit Argumenten und Beispielen aus den europäischen Ländern unterlegt. Und er wettert weiter:

"Die Parteien verhalten sich komplett verantwortungslos, doch keineswegs ohne Logik. Wer Wahlen gewinnen will, muss weiter lügen. Wer dagegen die wirtschaftliche Wahrheit auf den Tisch legt, wird abgestraft. Diese Leitlinie zieht sich durch ganz Europa."

Schümer schlussfolgert mit kritischem Blick auf die derzeit regierenden Parteien:

"So verkommt das politische Leben einer Organisation, die einst auf Solidarität und Zusammenwachsen angelegt war, zu einem Wettkampf der populistischen Raffzähne und Erpresser."

Schließlich beklagt der Autor, dass

"Europas Bürger dem Ernst der Lage bisher mit dem Vogel-Strauß-System begegnet sind. Sie stecken den Kopf in den Sand und hoffen, dass das Ärgste vorbeigeht und alles so gemütlich bleibt wie bisher."

Am deutlichsten lassen sich all diese Symptome am Beispiel Griechenland erkennen, meint Schümer. Von ähnlicher Skepsis, allerdings begrenzt auf die Kritik an der Europa-Politik gegen Griechenland, ist das jüngste Gedicht von Günter Grass erfüllt. Wer damit rechnete, dass sich die Feuilletons mit ähnlicher Vehemenz wie auf den vor etwa sechs Wochen "mit letzter Tinte" verfassten Grass-Text stürzen würden, sieht sich enttäuscht. Die Resonanz, drei Tage nach Veröffentlichung von "Europas Schande", ist kaum nennenswert. Während DIE WELT und die FRANKFURTER RUNDSCHAU die spärlichen zwei kritischen Wortmeldungen vom Wochenende nachdrucken, informiert der TAGESSPIEGEL darüber, dass der griechische Botschafter in Deutschland Dimitrios Rallis das Grass-Poem begrüßt. Das Gedicht mache nach seiner Einschätzung

"Hoffnung. Es ist eine wichtige Antwort auf viele ungerechte Kommentare, die in letzter Zeit zu Griechenland und den Griechen geäußert worden sind",

so Rallis. In der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG verweist Michael Stallknecht in seinem Bericht über eine Veranstaltung in der Münchner Carlo Friedrich von Siemens Stiftung auf Grass. Er schreibt:

"Günter Grass steht mit seinen Zweifeln an manchen arg forcierten Alternativlosigkeiten nicht allein. Das Unbehagen über die Gestalt der europäischen Einigung hat die Intellektuellen erreicht."

Der Autor belegt das mit Äußerungen des Soziologen Hans Joas innerhalb der Vortragsreihe: "Politik und Religion".

"Joas warnte vor einer schleichenden Selbstsakralisierung Europas."

In der Diskussion "erhielt er dafür überraschend deutliche Zustimmung",

unter anderem vom Philosophen Dieter Henrich und dem Theologen Friedrich Wilhelm Graf, der ebenfalls

"von einer religiösen Aufladung Europas" sprach.

Zur Erklärung:

"Joas deutet die Neuzeit nicht als fortschreitende Säkularisierung, sondern als eine Verschiebung von Sakralität."

Er argumentiert:

"An die Stelle der heiligen Kollektive tritt zunehmend das heilige Individuum."

Mit dieser Beobachtung ist er nicht weit entfernt von den Ansichten Dirk Schümers in der FAZ.