Vom Verlust des eigenen Kindes

30.11.2011
Es geschah am 23. Mai 2010, und dieser "Schwarze Pfingstsonntag" veränderte alles – Tonio, der 21-jährige Sohn von Adri van der Heijden, starb beim Zusammenprall mit einem Auto in Amsterdam. Von diesem Fahrradunfall mit tödlichem Ausgang und von dessen Folgen für sich und seine Familie erzählt der Niederländer in seinem jüngsten Buch, das er selbst einen "Bericht von innen" nennt.
Es ist sein so verzweifelter wie zutiefst bewegender Versuch, das Kind, das ihm über Nacht durch einen "schlimmen Schlag" des blinden Schicksals genommen wurde, "in Worten am Leben zu erhalten". Es ist eine Beschwörung, ähnlich wie sie die Amerikanerin Joan Didion vornahm in dem autobiografischen Report "Das Jahr magischen Denkens" nach dem Tod ihres Mannes.

Van der Heijden sammelt alle Details, jedes noch so kleine Faktum, das mit Tonios Leben und mit seinem Tod zusammenhängt. Was er im Krankenhaus erlebt, als sein Sohn dort "im kritischen Zustand" liegt und die Eltern an seinem Bett bangen; wie er schließlich alle Hoffnung aufgeben und durch den "trüben Kummer waten" muss, wie ihm Tränen versagt bleiben und er deshalb nur "inwendig weinen" kann ("es schreit in mir"); wie seine Frau Mirjam und er ihre Trauer im Alkohol zu ertränken und sich "langsam dem Vergessen entgegenzutrinken" suchen - all das schildert er schonungslos offen.

Dabei verfährt er assoziativ und verbindet viele Erinnerungssplitter und Momentaufnahmen aus glücklichen Tagen mit dem Datum, nach dem jedes Familienmitglied "unter seiner eigenen Glocke dumpfer Fassungslosigkeit" sitzt, schockstarr und unfähig, in den Alltag zurückzukehren. Als Leser wird man Zeuge der Beerdigung wie der Beantwortung der Kondolenzpost, man ist dabei, wenn die Hinterbliebenen den Grabstein auswählen und die Inschrift.

Selten ist so eindringlich beschrieben worden, wie schwer es ist, die Tatsache des Todes überhaupt anzuerkennen und was es heißt, wenn einen der Schmerz anfällt, hinterrücks und in nicht abebbenden Wellen. "Der Verlust macht unersättlich", weiß A. F. Th. van der Heijden. In seiner "Gier, alles wissen zu wollen", rekonstruiert er die letzten Stunden seines Sohnes, befragt dessen Freunde, macht auch nicht Halt vor dem nächtlichen Video einer Überwachungskamera, das den Unfallhergang zeigt. Und je mehr Einzelheiten aus dem kurzen Leben Tonios er zusammenträgt – von seiner Geburt bis zum Exitus - desto deutlicher tritt der Held dieses Buches zutage und sein Leben fügt sich tatsächlich zu einem Roman.

Van der Heijden hat dieses Requiem geschrieben, um nicht verrückt zu werden: Eine "Überlebensstrategie" war das "zwanghafte Ritual" des Schreibens für ihn, ein Weg, aus der Krise heraus zu finden. Die Lektüre ist ein unvergessliches Erlebnis. "Tonio" ist das Dokument eines Martyriums und eine Gedächtnisschatulle, das Monument eines Vaters für seine "männliche Muse". Ein Memorial, durch das er den Verstorbenen "in unsere Mitte zurückzuschmuggeln" hofft.

Nicht zuletzt ist dieses Buch die Feier eines familiären Dreierbundes, der auch schwere Stürme "abzuwettern" verstand. Ja, "Tonio" ist ein "chaotischer Strudel der Gefühle und Erfahrungen", und sein Sog ist mächtig.

Besprochen von Knut Cordsen

A. F. Th. van der Heijden: Tonio. Ein Requiemroman
Aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen
Suhrkamp, Berlin 2011
670 Seiten, 26,90 Euro