Vom "sinnlichen" Kunstereignis zum "Chaos"

Von Carsten Probst · 20.09.2007
Die documenta 12 begann mit Versprechungen und Vorschlusslorbeeren. Von einer "sinnlichen" documenta war die Rede, davon, dass ein "Umsturz" bevorstehe. Doch am Ende der Kasseler Ausstellung stellen die meisten Experten dem Kurator Roger M. Buergel ein vernichtendes Urteil aus.
Roger M. Buergel wusste offenkundig, was die Medien an den vergangenen beiden documentas vermisst hatten. Er versprach eine Schau, in der wieder die Kunst im Mittelpunkt stehen würde, und weniger die theoretischen Begleiterscheinungen der früheren Ausstellungen. Und er sprach davon, scheinbar obsolet gewordene Topoi wie "Schönheit" oder "das Sublime" wieder in den Blick zu nehmen und liess durchblicken, dass er sich nicht auf heutige Kunst beschränken, sondern auch alte, zum Teil sehr alte Kunst in den Dialog mit der Gegenwart bringen würde.

Ein scheinbar geradezu epochales Versöhnungsangebot von zeitgenössischer Kunst und Gesellschaft also. Scheinbar – denn so naiv hatte der documenta-Leiter es natürlich dann doch nicht gemeint. Buergel ist auch und vor allem Theoretiker, Experimentator, dem es nie darum ging, das Publikum zu einem Wellness-Kunst-Trip einzuladen, ganz im Gegenteil. Die Presse, wohl angefixt von der smarten Schüchternheit des neuen Großkurators, übersetzte Buergels Programm jedenfalls damit, eine "sinnliche" documenta stünde bevor. Selbst erfahrene Kritiker wie Hanno Rauterberg in der Wochenzeitung "Die Zeit" gingen auf die Knie und prophezeiten vorab schon einmal einen wahren "Umsturz" der bisher bekannten Kunstwelt, der von Kassel ausgehen würde. Freude schöner Götterfunken. Und alles nur ein Missverständnis?

Ernüchterung war zumindest vorhersehbar. Man entdeckte ziemlich bald, dass Buergels Programm ein didaktisches war, dass er ein breites Publikum durch einen Kunstparcours schicken wollte, um vor allem Grundlagen zu vermitteln. Schon bei der Pressevorbesichtigung hagelte es deshalb Empörung von Experten, die sich von solchen Kunsterziehungsabsichten unterfordert glaubten. Diese documenta wolle ihm das Denken verbieten, beschwerte sich etwa Nikolas Schafhausen, der dieses Jahr den Deutschen Pavillon in Venedig kuratiert hat. Buergel wurde Gutsherrenart bei der Auswahl der Künstler vorgeworfen, man verachtete die unübersichtliche Aufstellung von Bildwerken in den Gewächshäusern in der Karlaue, nannte die Konzeption der einzelnen Orte wahlweise dilettantisch, willkürlich oder schlichtweg furchtbar, das Konzept der "Migration der Formen" eine intellektuelle Luftblase. Buergel selbst pflegte sich zunächst über die Kritik zu amüsieren und kehrte verhängnisvollerweise den elitären Anspruch der documenta heraus, dem die Kritikeroffenkundig nicht gewachsen seien.

Als schließlich Ai Wei Weis riesige Holzskulptur in der Karlsaue umstürzte und Buergel leichthin erklärte, dadurch sei sie eigentlich noch besser geworden, war er endgültig zum Feindbild aller wahren Kunstfreunde geworden, und mit ihm die ganze Ausstellung, deren durchaus vorhandene Vorzüge dabei gleich ganz unter den Tisch fielen. Jan Hoet, einer von Buergels Amtsvorgängern, bescheinigte ihm kürzlich, von dieser documenta werde nichts im Gedächtnis bleiben. Die "Süddeutsche Zeitung" lässt die Schau zum Schluss, trotz neuen Besucherrekordes, gleich ganz im Chaos versinken.

Das Chaos aber betrifft wohl vor allem die Kommunikationsstrategie der documenta-Leitung, gerade in den letzten Wochen. Die fortlaufende Kritik, berechtigt oder nicht, hat bei Buergel inzwischen deutlich Wirkung gezeigt. An die Stelle seiner demonstrativen Selbstsicherheit ist mittlerweile Aggression getreten, wenn er, wie jüngst unter anderem im "Spiegel", seinen Kritikern vorwirft, "Lynchmob" zu spielen und aus Ratlosigkeit nichts als einen "Rülpswettbewerb" der lautesten Defätismen zu veranstalten.