Vom Schrecken des Krieges

Rezensiert von Ernst Piper · 09.11.2008
Zeugnisse privaten Erlebens stehen im Mittelpunkt von Peter Walthers Buch "Endzeit Europa". Über 100 Stimmen - darunter die der Künstlerin Käthe Kollwitz - erzählen darüber, wie sie die Schrecken des Ersten Weltkrieges erlebten. Besonders treffende Worte fand der britische Außenminister Edward Grey: "In Europa gehen die Lichter aus."
Die Nachricht vom Ausbruch des Ersten Weltkriegs ist damals gerade auch von vielen Künstlern und Intellektuellen mit Begeisterung aufgenommen worden. Allein im August 1914 wurden rund eineinhalb Millionen Kriegsgedichte geschrieben.

Diese Eruption nationaler Euphorie war vor allem eine Sache des städtischen Bürgertums, insbesondere der Jugend. Weite Teile der Arbeiterschaft, der Landbevölkerung und viele der in der Heimat zurückbleibenden Frauen standen der Kriegsbegeisterung skeptisch und nicht selten ablehnend gegenüber.

Der Herausgeber des kollektiven Tagebuchs "Endzeit Europa" hat bei seiner Auswahl einen starken Akzent auf das sogenannte Augusterlebnis, jenen Moment kollektiver Erregung, gelegt. Allein dem August 1914 widmet er fast 40 Seiten seines Lesebuchs, doppelt so viele wie dem gesamten Krisenjahr 1917, das für die weitere Geschichte so bedeutsam war.

Im Zentrum der an Kempowskis "Echolot" erinnernden Textkollage stehen Zeugnisse privaten Erlebens. Über 100 verschiedene Stimmen kommen dabei zu Wort. Zu denen, die den Leser durch den ganzen Band begleiten, gehört die der Künstlerin Käthe Kollwitz. Ihre beiden Söhne Peter und Hans meldeten sich wie so viele junge Leute bei Kriegsausbruch freiwillig zur Armee und die Mutter registrierte es mit Zustimmung. Sie selbst arbeitete in der Hilfskommission des Nationalen Frauendienstes.

Als Peter eingezogen wird, näht sie ihm deutsches Gold ins Jackenfutter ein, für Notfälle, und begleitet ihn am 7. Oktober 1914 zur Kaserne. Zwei Wochen später ist er schon tot, gefallen in Belgien, gerade einmal 18 Jahre alt. Im Jahr darauf notiert Kollwitz:

"Eine Frau ging ins Wasser, weil ihr einziger Sohn fiel. Sie wurde herausgefischt, ging dann noch einmal zurück und ertrank. Eine andere Frau, eine junge, tötete sich auch, weil ihr Mann fiel. Ich denk, es müssen noch viel mehr sein."

Wenig heroisch erscheint hier der Alltag des Krieges. Und das galt für die, die im Feld standen ebenso wie für die sogenannte Heimatfront, wie der nächste Eintrag wenig später zeigt:

"Krems erzählt aus dem Schützengraben an der Aisne, dass die Soldaten trinken, Zoten reißen, zu den paar Mädchen gehen, die es da noch gibt, die in einem fürchterlich abgenutzten Zustand sind. Ein Besuch soll ein Kommissbrot kosten. Hier in Berlin sollen immer mehr Frauen unter Sittenkontrolle kommen. Kriegerfrauen, die jeden Tag erwarten können, die Nachricht zu bekommen, dass ihr Mann gefallen sei."

Käthe Kollwitz war schon immer sozial und politisch engagiert gewesen. Durch das Kriegserlebnis wird sie außerdem zur entschiedenen Pazifistin. Am 9. November 1918 beobachtet sie die Revolution und schreibt:

"Immer muss ich an den Peter denken. Ich glaube, wenn er lebte, würde er mittun."

Besonders tragisch ist auch der Fall des Dichters und Literaturwissenschaftlers Ernst Stadler, der am 30. Oktober 1914, acht Tage nach Peter Kollwitz, auf einem Schlachtfeld in der Nähe von Ypern sein Leben ließ. Stadler stammte aus dem elsässischen Colmar, das damals zum Deutschen Reich gehörte.

Stets hatte er sich für die Verständigung zwischen Deutschland und Frankreich eingesetzt, hatte an den Universitäten in Oxford, Brüssel und Straßburg unterrichtet und im September 1914 sollte er gar eine Dozentur für Germanistik im kanadischen Toronto übernehmen.

Doch bereits am 31. Juli wurde er wegen des "Zustands drohender Kriegsgefahr" einberufen. Sichtlich deprimiert begann er, ein Kriegstagebuch zu führen. Angesichts von Stadlers frühem Tod umspannt es nur drei Monate, dennoch hat Peter Walther daraus eine ganze Anzahl von Einträgen ausgewählt, die einen nüchternen, detailreichen und realistischen Einblick in den Kriegsalltag geben.

Am 22. August 1914 erreichte Stadlers Infanterieeinheit ein zerstörtes französisches Dorf:

"Auf der Straße riesige Krater und Trichter, die die schweren Fußartilleriegeschosse ausgeworfen haben. Tote in Massen. Tornister, Hemden, Wäsche, Fleisch. Die Toten im Dorf meist den Kopf mit einem Tuch verhüllt. Nachher auch das nicht mehr. Im Chausseegraben einer neben dem anderen. Fürchterlich zugerichtet durch die Artilleriegeschosse. Einem das ganze Unterkinn weggerissen. Ein ganzer Schützengraben voll gefallener Franzosen. Dann tote Deutsche, die ihn gestürmt haben. An den Leichen sind schon die Fliegen. Die Bewohner großenteils geflohen. In den Ställen steht noch Vieh, soweit es nicht erschossen ist. Eine Katze schleicht vorsichtig über die Schwelle des zu Trümmern geschossenen Hauses. Hühner. In einer Jauchelache ein stinkender, ersäufter Hund. Ein Kramladen. Die Soldaten wühlen in den Sachen."

Zwölf Tage zuvor hatte Stadler die deutsch-französische Grenze überschritten:

"Es ist ein wundervoller Abend. Weiter freier Blick in die französischen Berge. Ich grüße Frankreich beinahe mit solcher Erschütterung wie damals, als ich vor sieben Jahren zum ersten mal Paris sah. Ich denke kaum mehr, dass Krieg ist. Ich grüße Dich, süße Erde von Frankreich."

Keine acht Wochen später wurde der Dichter auf eben dieser Erde von einer französischen Granate zerrissen.

Käthe Kollwitz und Ernst Stadler sind nur zwei Stimmen der großen Polyphonie, die das Kriegsgeschehen evoziert. Da sind Stefan Zweig und Romain Rolland, die ihre kollegiale Freundschaft über die Feindschaft ihrer Vaterländer hinweg zu retten versuchen. Da ist Franz Kafka, der distanziert neutrale Beobachter.

Da ist Kurt Riezler, der Vertraute von Reichskanzler Bethmann-Hollweg, Thomas Mann, der seine "Betrachtungen eines Unpolitischen" schreibt, Rainer Maria Rilke, der wie Stefan Zweig im Wiener Kriegsarchiv arbeitet, schließlich die vielen, die wie August Macke, Franz Marc oder August Stramm auf den Schlachtfeldern bleiben.

Dass mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs unwiderruflich etwas zu Ende ging, empfanden schon die Zeitgenossen. In Europa gehen die Lichter aus, sagte damals der britische Außenminister Edward Grey. Und der Schriftsteller Kurt Tucholsky bemerkte: "Das bürgerliche Zeitalter wird zu Grabe getragen." Das Lesebuch "Endzeit Europa" lässt erkennen, wie die in vielem glanzvolle Epoche des wilhelminischen Kaiserreichs in den Blutmühlen vor Versailles ein wenig rühmliches Ende gefunden hat. Das Buch sei jedem empfohlen, der sich ein realistisches Bild von diesem Krieg, ja vom Krieg überhaupt machen will.

Peter Walther: Endzeit Europa - Ein kollektives Tagebuch deutschsprachiger Schriftsteller, Künstler und Gelehrter im Ersten Weltkrieg
Wallstein Verlag, Göttingen/2008
Peter Walther: Endzeit Europa - Ein kollektives Tagebuch deutschsprachiger Schriftsteller, Künstler und Gelehrter im Ersten Weltkrieg
Peter Walther: Endzeit Europa - Ein kollektives Tagebuch deutschsprachiger Schriftsteller, Künstler und Gelehrter im Ersten Weltkrieg© Wallstein Verlag