Vom Schmerz des Verlustes

11.11.2010
Mit "Der Klang der Fremde" ist Kim Thúy nicht nur ein fulminantes Debüt gelungen. Der Roman ist ein kleines Kunstwerk, ja ein literarisches Kleinod, das die schmerzensreiche Vergangenheit ihrer Heimat Vietnam in gestochen scharfen Bildern lebendig hält.
Zehn Jahre alt ist die aus einer wohlhabenden Oberschichtfamilie stammende Nguyen An Tinh, als sie mit ihren Eltern aus ihrer Heimat Vietnam, das die Kommunisten auseinander gerissen und mit dem "kirschblütenroten" Blut von zwei Millionen Soldaten getränkt haben, Richtung Westen flieht. Von dieser Flucht – 30 Jahre liegt sie nun zurück – und vom Neubeginn im Unbekannten handelt Kim Thúys (höchst biografischer) Roman "Der Klang der Fremde".

Der ist – um es gleich vorweg zu sagen – ein kleines Kunstwerk, ja ein literarisches Kleinod. Denn Thúy, deren Familie in Kanada Fuß fassen wird, gelingt darin das eigentlich Unmögliche: vom Schmerz des Verlustes zu sprechen, die Erinnerungen an das Vergangene lebendig zu halten, jedoch ohne sich dem Glück zu verweigern, das Leben im Hier und Jetzt als Geschenk zu nehmen.

Lust wie Leid evoziert Thúy meisterlich in gestochen scharfen Bildern, in sinnlich konkreten Erfahrungen: Da sind die ungebildeten Soldaten, die im Zuge der Enteignung die zahlreichen Büstenhalter der Großmutter für Kaffeefilter halten und sie im Schrank versiegeln. Da sind die Frauen – deren gebeugte Rücken Thúy als Inbegriff für die Bürde der Geschichte zeigt, die auf diesen stillen Heldinnen lastet –, die getrocknetes Schweinefleisch in die Umerziehungslager schmuggeln, in denen ihre Männer und Söhne festsitzen.

Da ist die nackte, an einem Faden befestigte Glühbirne unter Deck jenes Bootes, das die kleine An Tinh und ihre Familie als "boat people" nach Malaysia bringt – wo sie dankbar unter den zweitausend Flüchtlingen in einem Lager hausen, das für fünfhundert gedacht war. Da ist die Gastfreundschaft der Kanadier – die Reis servieren, der körnig von der Gabel fällt, die den Vietnamesen neu ist. Da ist die kanadische Lehrerin, deren Leibesfülle den Wohlstand des amerikanischen Traums verheißt.

Thúy – die als erwachsene Frau für drei Jahre nach Vietnam zurückkehrte und dort Tür an Tür mit den früheren Peinigern lebte und arbeitete – schildert diese Erinnerungen, trotz ihrer großen Nähe, aus einer wohltuenden Distanz heraus. Und sie überrascht den Leser mit einem zarten Humor, der ihren unbestechlich präzisen und zugleich poetischen Momentaufnahmen eigen ist.

Noch die Form ist hochliterarisch: Denn Thúy reiht ihre fragmentarischen Erinnerungen nicht chronologisch aneinander, sondern verbindet die einzelnen Prosa-Miniaturen dieser Reise in die Vergangenheit anhand von assoziativen Scharnieren: Das Bild oder das Stichwort, mit dem ein Kapitel endet, bildet den Auftakt des nächsten.

"Der Klang der Fremde" ist insofern nicht allein ein fulminantes Debüt. Der Roman ist auch eine Hommage: an die Menschen, die wie etwa Thúys Eltern unendliche Opfer brachten, und an das stille Leiden der vietnamesischen Frauen. Und an Thúys Heimat Vietnam, das, so die heute in Montréal beheimatete Autorin, den "Dreck der Vergangenheit" wie einst Phönix die Asche abgeschüttelt hat.

Besprochen von Claudia Kramatschek

Kim Thúy: "Der Klang der Fremde"
Aus dem Französischen von Andrea Alvermann und Brigitte Große,
Roman, Verlag Antje Kunstmann, München 2010
160 Seiten, 14,90 Euro