Vom Modderloch zur Freiluft-Andacht

Von Annett Seese und Jutta Schwengsbier · 21.06.2008
Leipzigs Kirchen machen viel von sich reden. Die Thomaskirche, einst wirkte hier Johann Sebastian Bach. Die Nikolaikirche, Ort der Friedensgebete - dass von dort her 1989 die Impulse zu den Montagsdemonstrationen kamen, ist noch heute in aller Munde. Und nach wie vor sind die prächtigen Gotteshäuser Zentren des religiösen Lebens. Doch mehr und mehr halten Menschen auch kleine und unscheinbare Orte heilig, finden sich "in Gottes freier Natur" zu Andachten oder Gottesdiensten zusammen.
Eine Andacht, am Rande der Straße, im Leipziger Stadtteil Marienbrunn. Warum hier, und nicht in der Kirche? Der Puls der Großstadt, unbarmherzig rast er dahin. Doch zwischen Tankstelle und Bahnschienen singt sogar eine Italienerin Lieder zur Freiluft-Andacht mit.

Joseppina Rossa: "Ich komme von Sizilia, … Und diesen Platz von Marienquelle hat mir meine Tochter gesagt, sie hat mir gesagt, ich kenne schon lange diesen Platz. Schade, ohne Figur von Maria, aber ist schön."

Joseppina Rossa kennt Leipzig gut. Hier aber ist sie zum ersten Mal, an einer der ältesten Marienquellen in Deutschland - seit Jahren wieder ein Ausflugsziel, doch vielen bedeutet sie mehr.

Hans Martin Tolkmet Lorenz : "Die alte Legende … zu der Marienquelle … erzählt von den Armenhäusern der Stadt, wo plötzlich jemand erschienen sein soll, der eine andere Art von Liebe und Pflege mitgebracht hat. … Das war die Spur, die hierher geführt hat für mich","

sagt der Franziskaner Hans Martin Tolkmet Lorenz. Manchen ist das zu weltlich. Zur Marienverehrung halten sie Ausschau nach so genannten Erscheinungsorten. Aber gerade in dem, was man oft unscheinbar nennt, liegt für den ehemaligen Klinikpfarrer viel mehr vom Sinn einer Religion.

""Daß man mit den Menschen sich trifft, die vielleicht ganz anders ausgerichtet sind, aber so nen Ort heilig halten, und … dieses Einfache wirklich zum Gebet und zur Bewunderung des Lebens zu gebrauchen","

dies bringt ihn immer wieder hierher, zu jenem alten Kulturort im Herzen von Leipzig, der viele Jahre nur eine verrottete Senke war, und von der auch ein Varietekünstler wie Gerd Voigt sich lange kaum hatte vorstellen können, dass es eines Tags wieder mehr und mehr Menschen dort hin ziehen würde.

Gerd Voigt: ""… nach der Wende wurde hier saniert und wild saniert, und die Marienquelle, der wir ja eigentlich das Marienbrunn, den Namen, zu verdanken haben, war ein Modderloch im Amselpark, randvoll mit Laub und Bierbüchsen und Pappkartons."

Rings um die Haltestelle mit dem verträumt klingenden Namen "An der Märchenwiese" sind Menschen aus vielen Wirklichkeiten Leipzigs zu Hause. Sie alle lieben ihr Viertel und beobachteten mit wachsendem Unbehagen seit Jahren das Verwildern des Parks, in dem sich Archivdokumenten zufolge jene Quelle befinden sollte, die dem Stadtteil seinen Namen gab.

"In einer Samstagnachmittagaktion sind wir zu sechst an die Marienquelle gewandert, mit Spaten und Schaufel, und wollten mal sehen, ob wir das Marienbrunnenloch doch wieder ausbaggern können. Und siehe da, zwischen Laub und Matsch fanden wir auch die Steine, und nachdem wir dann auch noch die Eckpfeiler und die geraden Sandsteinpfeiler gefunden haben, da war uns klar: Aus der Quelle müssen wir schon wieder ein Schmuckstück machen."

So begann, was damals noch keiner für möglich hielt. Die "Freunde vom Marienbrunn" machten aus dem "Modderloch" ein Kleinod Leipziger Landschaftskunst. Mit modernster Lasertechnik brachte ein Broncegießer nun auch die alte Inschrift ans Licht.

"Diese Umrisse…auf dem Stein…also es steht ja 15, dann kommt wie ein Paragraphenzeichen, Maria Born 01."

Die Jahreszahl 1501 und ein Name, der den Ursprung der Quelle mit jener Sage verbindet, in der die Rede ist von der jungen sächsischen Pilgerin namens Maria. Gerade zurück aus dem heiligen Land erschien sie 1441 am Johannistag in einem Leipziger Spital und ermunterte die Menschen, mit ihr zu kommen. Auf einer Wiese kniete sie nieder und betete.

"Als sie sich erhob, war ein Wunder geschehen. Wo ihre Knie den Boden berührt hatten, sprudelte ein silberklarer Quell aus der Erde. Maria segnete ihn und verkündete: Solang der Quell hier fleußt, die Gnade sich ergeußt."

So steht es nachzulesen in einem Buch des Leipziger Historikers Claus Uhlrich. Jahrhunderte lang hat man dieses Ereignis, den Ursprung der Quelle und das genaues Datum, nur mündlich erzählt und bewahrt. Während Archivdokumente von der Nutzung der Quelle zur Trinkwasserversorgung der Stadt berichten, ist es die Sage, die bis heute von jenen christlichen Handlungen spricht, die den Ort einst begründeten. 1836 erst hat man sie als Legende vom Marienborn in den Nachträgen zur Leipziger Stadtgeschichte erstmals auch schriftlich fixiert. Zum Johannistag am 24. Juni feiert man nun das Marienquellenfest. Manche bezeichnen auch dies als Andacht, sagt Hans Dietrich Weichert, der einst evangelischer Pfarrer im Viertel war, aber…

Hans Dietrich Weichert: "… das ist es eigentlich nicht. Das ist keine kirchliche Handlung. Wenn ich da aktiv bin, da bin ich nicht als Pfarrer aktiv oder als ehemaliger Pfarrer, sondern als Ehrenvorsitzender des Vereins. Da les ich hier die Legende vor und wir singen Volkslieder, aber es ist kein liturgisches oder kein kirchliches Ereignis, also keine Andacht in dem Sinn."

Über 300 Leute zog es zum Johannistag schon zu der grünen Senke. Partystimmung, prickelnde Luft. Wer ist da schon auf Erleuchtung aus. Doch, wer weiß - ein plötzliches Flirren der Zweige, ein seltener Laut im Tumult - nicht umsonst macht man seit jeher Erfahrung von Gottesnähe vor allem auch in der Natur.

"Ja auch in der evangelischen Kirche nimmt die Tendenz zu, Gottesdienste oder Andachten in die Natur zu verlagern, Waldgottesdienste oder auf einem bestimmten Berg finden sich die Gemeinden zusammen in Gottes freier Natur, wie man so sagt, und das ist eigentlich eine sehr schöne neue Entwicklung."

Der Ex-Pfarrer, wie ihn viele Marienbrunner nennen, freut an der rekonstruierten Quelle besonders, dass gerade ihre historische Bedeutung nun wieder mehr ins Bewusstsein kommt. Mit ihrem Wasser hat man sogar wieder Kinder getauft.

"Und das haben wir schon mehrfach praktiziert in Marienbrunn, … das habe ich als einen sehr schönen Brauch empfunden, als Verbundenheit mit den Wurzeln, so wie manchmal auch Taufen mit Wasser aus dem Jordan gehalten werden."

Ein Brauch, der das Wasser an diesem Ort bis ins 15. Jahrhundert hinein mit dem christlichen Glauben verbindet. Sogar ein polnischer Kapitän war schon hier, um das heilige Wasser der Quelle mit auf große Fahrt zu nehmen – bis nach Australien.