Vom Leben auf Pump in die Krise

Von Jochen Faget · 29.03.2011
Ihre Demokratie ist erst 37 Jahre alt, doch schon jetzt haben Portugals Politiker bei vielen Bürgern jegliche Glaubwürdigkeit verloren. Portugal gehört zu den ärmsten Ländern der EU. Auch der Rücktritt von Premierminister José Sócrates kann daran nichts ändern.
"Kämpfe, Genosse, kämpfe", singen Tausende von Jugendlichen auf Lissabons Prachtstraße Avenida da Liberdade.

"Ich habe einen Master-Titel, aber kein Einkommen", meint die 32jährige Mariana. "Wir studieren sieben Jahre lang für nichts und wieder nichts".

Über 60.000 junge Menschen in Portugal haben – so die offiziellen Zahlen - keine Arbeit, die Dunkelziffer dürfte entschieden größer sein. Noch viel mehr verdienen 500 Euro oder weniger im Monat – als Gelegenheitsarbeiter oder Scheinselbstständige. Sie leben ohne sicheres Einkommen, ohne Zukunftsaussichten. Der Soziologe José Maria Castro Caldas vom angesehenen Zentrum für soziale Studien der Universität Coimbra:

"Die jungen Menschen leben heutzutage bis Mitte 30 in absoluter Unsicherheit. Sie können das, was eigentlich normal ist, nämlich Zukunftspläne schmieden, nicht tun. Sie können nicht an Familiengründung denken, nicht an Karriere im Beruf, nicht an ein erfülltes Leben. All das liegt außerhalb der Reichweite einer gesamten Generation."

Dank ständig neuer Sparpakete gegen die Finanzkrise, gehen in Portugal die Lichter aus. Die Arbeitslosigkeit steigt ständig, die Kaufkraft sinkt. Sozialleistungen wurden abgebaut, Löhne gekürzt. Dass das jüngste Sparprogramm nicht vom Parlament gebilligt wurde und Ministerpräsident Sokrates letzte Woche zum Rücktritt zwang, wird daran nichts ändern. Und ein EU-Rettungsschirm für die Portugiesen, der immer wahrscheinlicher wird, dürfte das Land zu noch größeren Einsparungen zwingen. José Maria Castro Caldas:

"Wir müssen abwarten. Denn jetzt gerät die Mittelschicht in schwere Bedrängnis. Geschichtlich gesehen hat die Mittelschicht in solchen Situationen die absurdesten Reaktionen gezeigt, auch gewalttätige. Ich fürchte, darauf steuern wir jetzt zu. Ich will keine Panik verbreiten, aber wir müssen sehr genau aufpassen, was da geschieht."

Die sonst so friedfertigen und höflichen Portugiesen sind sauer. Sie nehmen kein Blatt mehr vor den Mund. Vor allem, wenn sie über ihre Politiker sprechen. Die Gemeindearbeiterin Olinda aus dem mittelportugiesischen Marinha Grande findet:

"Die wollen alle nur reich werden. Um das Volk kümmern sie sich nicht. Die Krise wird immer größer, und die Politiker bauen nur Mist. Das ist alles Betrug. Dazu sagen wir im Volksmund, die soll doch alle der Teufel holen."

Dabei seien nicht wenige in den letzten Jahren reich geworden, auch weil das politische System versagt habe, stellt der Soziologe Castro Caldas fest:

"Es scheint wirklich so zu sein, dass unser System nur noch Menschen mit einem Charakter und Vorstellungen hervorbringt, die zu wünschen übrig lassen. Leute, die nirgendwo anders Karriere machen können als in der Politik. Historisch betrachtet hat die Qualität unserer Politik sehr nachgelassen."

Als es noch Geld in Portugal gab, wurde es mit vollen Händen ausgegeben: EU-Milliarden für Autobahnen, auf denen kaum Autos fahren und deren Unterhalt das Land sich heute nicht mehr leisten kann. Statt seine Industrie international konkurrenzfähig zu machen, investierte der Staat in zweifelhafte Infrastrukturmaßnahmen. Fast jedes Dorf hat heute seine kaum genutzte Mehrzweckhalle, jede Kleinstadt ihr meist leeres Frei- und Hallenbad, jede Distrikthauptstadt ihr Kongresszentrum, in dem niemand tagt. Alles auf Pump gebaut. Jetzt muss der Staat sparen und tut das vor allem im Sozialbereich. Dort, wo es am meisten schmerzt, bei der Gesundheit.

Laut portugiesischer Verfassung ist der staatliche Gesundheitsdienst kostenlos und wird über die Steuereinnahmen finanziert. Doch wegen der Finanzkrise wurden die Mittel dafür immer wieder gekürzt. Es fehlt an Ärzten, die Ausrüstung vieler Krankenhäuser ist schlecht und veraltet.

In der Poli-Klinik im mittelportugiesischen Caldas da Rainha gibt es nicht einmal ein Wartezimmer. Die Patienten sitzen auf Plastikstühlen im Korridor. José Estevão schon seit Stunden:

"Die Warteschlangen sind endlos. Und am Empfang sitzt gerade mal eine Sprechstundenhilfe. Ich musste zwei Wochen auf diesen Arzttermin warten."

Dabei hat José Estevão noch Glück. Um sein schmerzendes, geschwollenes Bein kann sich der diensthabende Allgemeinmediziner kümmern. Wer eine Facharztbehandlung braucht, wartet oft monatelang: Ein Vierteljahr auf den Augenarzt, über ein halbes auf eine Hüftoperation. Den Zahnarzt gibt es sowieso nur gegen Bares als Privatpatient. Jetzt soll noch mehr gespart werden.
José Estevão:

"Die Einsparungen im Gesundheitsbereich gehen auf Kosten der Patienten. Sie treffen vor allem Kinder, Senioren und chronisch Kranke. Für die wird Gesundheit immer teurer. Einerseits werden die Medikamentenpreise leicht gesenkt. Andererseits steigen die Zuzahlungen. Das ist nichts anderes, als die Patienten für dumm zu verkaufen."

Nicht nur die Patienten klagen, auch die Ärzte. António Pedro Soure weiß nicht einmal, für wie viele Patienten er offiziell zuständig ist. Mehr als 3000 seien es aber bestimmt. Statt individueller Betreuung, die der Arzt eigentlich geben möchte, gibt es Behandlung am Fließband:

"Ich will mir nicht vorstellen, wie das enden wird. Es gibt nicht nur weniger Geld für Medikamente, auch die Zusatzuntersuchungen werden immer stärker eingeschränkt. Irgendwann werden wir wieder alte Hausmittel verschreiben, wie vor hundert Jahren."

Gesundheit werde ein Privileg der Reichen werden, prophezeit der Soziologe José Maria Castro Caldas. Doch nicht nur das. Der Sozialstaat sei insgesamt in Gefahr:

"Jetzt kommen drastische Kürzungen in kritischen Bereichen, neben der Gesundheit, auch in der Erziehung auf uns zu. Es geht längst nicht mehr um Verschwendungsabbau oder bessere Nutzung vorhandener Mittel, wie die Politiker sagen. Sozialleistungen werden zurückgeschraubt."

Gleichzeitig kürzt der Staat das Kindergeld. Wer mehr als 600 Euro im Monat verdient, hat darauf keinen Anspruch mehr. Mehr als 30.000 Familien haben wegen neuer, verschärfter Bedingungen die Sozialhilfe verloren.

In der Lissabonner "Nahrungsmittelbank gegen den Hunger" herrscht Hochbetrieb: Freiwillige Helfer stapeln und verteilen Essensspenden, die die Organisation bei Supermärkten und Nahrungsmittelherstellern gesammelt hat. Hier im Lager landen Nudeln, die inzwischen in einer anderen Verpackung vermarktet werden, Salat, der auf dem Markt keine Käufer fand, Konserven, deren Verfalldatum näher rückt. Die Lebensmittelbank versorgt damit Wohlfahrtsorganisationen, die sie an eine ständig wachsende Zahl der Bedürftigen weitergeben, erklärt Isabel Jonet, die Leiterin:

"Es gibt bereits 18 Nahrungsmittelbanken in Portugal. Sie beliefern 1830 Institutionen, die ihrerseits dafür sorgen, dass 280.000 Menschen zumindest einmal am Tag eine warme Mahlzeit bekommen."

Betroffen sind vor allem Senioren. Portugals Rentensystem besteht erst seit rund 40 Jahren. Darum bekommen viele Bürger extrem niedrige Pensionen. Gut eine Million Rentner müssen, weil sie nie oder nur geringe Beiträge geleistet haben, mit weniger als 300 Euro im Monat auskommen, stellt die Nahrungsmittelbankdirektorin fest.

"Ihre niedrigen Renten geben die Senioren fast ganz fürs Essen und für Medikamente aus. Wenn jetzt die Ernährung teurer wird, müssten sie bei den Medikamenten sparen. Weil das aber nicht geht, essen sie zu wenig, wenn wir sie nicht unterstützen."

Wegen der Rezession im Land steigt die Arbeitslosigkeit weiter. Inzwischen verlieren auch immer mehr Angehörige der Mittelschicht ihren Job. Für mache ist das ein besonders herber Schlag, weil sich in den vergangenen Jahren mit billigen Krediten hoch verschuldet haben. Sie sind die neuen Kunden der Nahrungsmittelbank. Isabel Jonet:

"Die Mittelschicht hat die Krise besonders hart getroffen. Viele können ihre Kredite nicht mehr bezahlen, weil die Löhne dafür nicht mehr ausreichen. Inzwischen kommen sogar Lehrer, Ärzte und Hochschulprofessoren, die ihre Arbeit verloren haben, zu uns und bitten um Hilfe."

Dazu kommen auch diejenigen, die noch Arbeit haben, mit ihrem Geld kaum noch über die Runden. Hunderttausende drohen unter die Armutsgrenze zu rutschen, fürchtet der Soziologe José Maria Castro Caldas.

"Es herrscht Angst. Angst vor der Zukunft, Unsicherheit. Natürlich ist die Angst begründet. Das kann nicht lange gut gehen. Nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch. Die Stabilität der Demokratie ist in Gefahr und das macht mir Angst."

Margarida Paes, 25-jährige Mutter zweier Kinder, hat sich in ihrer Mittagspause in ein Café geflüchtet. Mehr als einen Espresso und ein Sandwich sind schon aus finanziellen Gründen nicht drin. Mit einem Familieneinkommen von knapp 2000 Euro im Monat kann sie keine großen Sprünge machen:

"Wir müssen vorn und hinten sparen, damit wir über die Runden kommen. Gottseidank helfen unsere Eltern, sonst ginge es uns noch schlechter. Wir sind eine junge Familie. Ich bin Freiberuflerin, mein Mann verdient knapp 1000 Euro. Nicht gerade viel."

Margarida hilft ihrer Mutter bei der Büroarbeit – gegen Rechnung, ohne Renten- und Arbeitslosenversicherung, ohne Urlaubs- und Weihnachtsgeld. Die Gewerkschaften schätzen, dass inzwischen eine Million Portugiesen unter solchen Bedingungen arbeiten, Tendenz zunehmend. Das sei schlimm, aber immer noch besser, als arbeitslos zu sein, sagt Margarida.

"Sparen können wir nicht. Eine Rentenversicherung habe ich auch nicht. Abgesehen davon, dass ich nicht weiß, ob ich nächsten Monat Arbeit habe, verdienen wir nicht genug, um etwas zurückzulegen. Am Monatsende ist alles weg. Sicher, wir schulden niemandem etwas, aber es bleibt auch nichts übrig."

Seit im vergangenen März mehr als 300.000 junge Menschen in einer friedlichen Demonstration auf die Straße gegangen sind, ist Margarida allerdings ein bisschen stolz auf ihre Generation. Schließlich habt Portugals Jugend ihren Politikern recht beeindruckend gezeigt, dass sie nicht bereit ist, weiter unter so schlechten Bedingungen zu leben. "Wir werden für eine bessere Zukunft kämpfen", sagt die 25jährige. "Wir haben ein Recht darauf".
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