Vom KZ in den Gulag

Ulrike Goeken-Haidl im Gespräch mit Jürgen König · 25.01.2010
Mit dem Sieg über Nazi-Deutschland wurden auch über fünf Millionen Sowjetbürger aus deutschen Konzentrations- und Zwangsarbeiterlagern befreit. Durch das Abkommmen von Jalta wurden sie umgehend in ihre Heimat zwangsdeportiert und erneut in Lager gesteckt, denn Stalin betrachtete sie als Kollaborateure und Spione.
Jürgen König: Über fünf Millionen Sowjetbürger wurden 1945 aus deutschen Konzentrations- und Zwangsarbeiterlagern befreit. Aber diese Befreiung hatte für viele schlimme Folgen, denn in Stalins Machtbereich drohte ihnen erneut Stigmatisierung, Inhaftierung, Verbannung und Tod, standen sie doch unter dem Generalverdacht, Vaterlandsverräter oder gar Spione zu sein. Viele Sowjetbürger wehrten sich gegen die Auslieferung an ihr Heimatland, fürchteten sich, und man muss hinzufügen, zurecht vor Deportation und Inhaftierung, wurden aber den sowjetischen Behörden zwangsweise übergeben. Dazu hatten sich die Westmächte 1945 im Vertrag von Jalta verpflichtet. Erst Boris Jelzin hat dieses Unrecht aus der Sowjetzeit anerkannt, mit seinem Jelzin-Dekret, erlassen am 24. Januar 1995, also vor 15 Jahren. Ein Buch über dieses Thema hat 2007 die Historikerin Ulrike Goeken-Haidl veröffentlicht. Ich grüße Sie, guten Tag!

Ulrike Goeken-Haidl: Grüß Gott!

König: Frau Goeken-Haidl, was geschah damals mit diesen sowjetischen Kriegsgefangenen, KZ-Häftlingen und Zwangsarbeitern nach der Befreiung aus den Lagern?

Goeken-Haidl: Etwas weniger als die Hälfte der Gesamtzahl, also 2,3 Millionen, wurden sukzessive während des Vormarschs der Westalliierten befreit. Und zunächst in sogenannte Displaced-Person-Lager konzentriert. Das westalliierte Oberkommando hatte sich bereits vor der Landung in der Normandie theoretisch mit der millionenfachen Hinterlassenschaft von Nazideutschland, also Zwangsarbeitern, KZ-Insassen und Kriegsgefangenen aus ganz Europa befasst. Die Westalliierten bezeichneten sie als "Displaced Persons", also Deplatzierte aus Kriegsgründen, und hatte Vorbereitungen für die Aufnahme medizinischer Versorgung und Ernährung von zehn Millionen Menschen getroffen.

Das war gut geschätzt – mit einem Unterschied: Während unter anderem die französischen, niederländischen, italienischen DPs sofort nach der Befreiung freudig ihre Heimreise oft auf eigene Faust antraten und in keiner Statistik mehr auftauchten, wanderten die 2,3 Millionen sowjetischen DPs erst mal in DP-Lagern überall in den Westzonen. Dort sollten sie ihre Sammelauslieferung abwarten.

König: Warum wurden die dann verhört, warum wurden sie überhaupt inhaftiert, verschleppt, unter welchem Verdacht standen sie?

Goeken-Haidl: Die sowjetische Regierung hatte sie pauschal unter Kollaborationsverdacht gestellt. Das hat historische Gründe. Schon die Dekabristen 1825, das war eine Gruppe von Adeligen, die sich im Westen aufgehalten hatten, waren gewissermaßen infiltriert mit westlichen Ideen, und auch diese Menschen, die jetzt – ob es nun freiwillig gewesen ist oder nicht –, wurden unter kollektiven Kollaborationsverdacht gestellt und dementsprechend behandelt.

König: Das heißt, es galt auch als problematisch, dass sie überhaupt in Kontakt mit dem Westen gekommen waren?

Goeken-Haidl: Es galt als problematisch. Zudem war vor allen Dingen für die sowjetischen Kriegsgefangenen der berühmt-berüchtigte Befehl 270 von August 1941 in Kraft, der besagte, dass ein sowjetischer Soldat sich nicht in die Kriegsgefangenschaft begibt, und die letzte Patrone sollte jeweils zur Selbsttötung bereitstehen. Dieses war auch den Zwangsarbeitern, also den Zivilisten, die zwangsweise verschleppt wurden – es waren etwa 2,5 Millionen von dieser Gesamtzahl – auch bekannt, und alle sahen sozusagen ihrer Befreiung mit gemischten Gefühlen entgegen.

König: Weiß man, wie groß die Zahl der Opfer ist unter den Sowjetsoldaten, aus deutscher Kriegsgefangenschaft heimgekehrt?

Goeken-Haidl: Das hat sich aufgesplittert. Zunächst wurde eine Filtration vorgeschaltet, das heißt, alle Leute, vor allen Dingen die, die aus dem amerikanischen und dem britischen Machtbereich kamen, wurden dann über die Demarkationslinie an sieben Stellen an den Delivery-Reception Points übergeben, den sowjetischen Mächten, und wurden dann in zuvor vorbereitete Filtrationslager gesteckt.

Dort wurden sie geheimdienstlich betreut, wie es in der Amtssprache heißt, in der sowjetischen, in der russischen Amtssprache, und wurden dort kategorisiert. Fand man kompromittierendes Material, wanderten sie weiter in speziell für sie vorbereitete Lager in der Sowjetunion, sind also schon unter Siegel in Zugtransporten dann weitergeschickt worden. Das betraf etwa jeden Vierten aus der Kriegsgefangenschaft beziehungsweise auch der Zwangsarbeiterschaft heimgekehrten Menschen.

Ein Teil, 608.000, kamen in Arbeitsbataillone des Verteidigungsministeriums, das waren zumeist junge, männliche Zwangsarbeiter, die während ihrer Zwangsarbeiterschaft in Deutschland das mobilisierungsfähige Alter erreicht hatten. Fünf Prozent, etwa 250.000, dienten als kostenlose Arbeitskräfte in Truppenteilen der sowjetischen Besatzungsstreitkräfte beziehungsweise mussten bei der Demontage in ostdeutschen Fabriken mitarbeiten, wurden dann zwangsweise mit den Demontageteilen in die Züge verfrachtet und mussten sie dann in der Sowjetunion wieder aufbauen.

König: Man fragt sich natürlich, warum die Alliierten sowjetische Kriegsgefangene überhaupt ausgeliefert haben, und darüber hinaus stellt sich auch gleich die Frage, was wusste der "Westen" vom Schicksal der Heimkehrer?

Goeken-Haidl: Das war vertraglich vereinbart. Im Vertrag vom Jalta vom 11. Februar 1945 hatten die Westalliierten dazu sich vertraglich verpflichtet. Die Sowjetunion hatte ein Faustpfand gewonnen, das sie während der Verhandlungen auf der Krim wirkungsvoll eingesetzt hatte, nämlich 348.000 von der Wehrmacht kriegsgefangene Soldaten aus den USA, aus England und Frankreich saßen in den Wehrmachtskriegsgefangenenlagern in den Wehrkreisen in Ostdeutschland beziehungsweise von der Wehrmacht besetzten Teilen Polens fest, wurden nun sukzessive von der Roten Armee befreit und irrten kopflos umher.

Und Sie können sich vorstellen, eine Macht, die praktisch auch das Wasser selber einfliegt nach Afghanistan und anderes, die waren völlig entsetzt. Die sind auf das Erbarmen der Zivilbevölkerung angewiesen, berichtete der amerikanische Militärattaché der US-Botschaft in Moskau, und setzte alle Hebel in Bewegung, um seine Boys, to take the boys home. Und die sowjetische Seite hatte dies als Faustpfand ausgespielt, knallhart, und übergab erst diese amerikanischen, die britischen und die französischen Soldaten den amerikanischen Mächten, also ihren Gewahrsamsmächten, keinen Tag eher, als dass die ersten sowjetischen DPs ab dem 23. Mai 1945 das deutsche, also die westalliierten Zonen verließen Richtung Demarkationslinie.

König: Demzufolge konnten die Alliierten gar nicht anders handeln, um ihre eigenen Leute freizukriegen?

Goeken-Haidl: Richtig, ganz genau. Es war also praktisch ein Druckmittel entstanden, was die Sowjetunion wirksam eingesetzt hatte.

König: Was wusste dann der Westen von dem, was mit den sowjetischen Soldaten später passiert?

Goeken-Haidl: Die britischen Soldaten kannten den Widerstand vieler ehemaliger Rotarmisten ganz gut. Sie hatten nämlich schon weit vor dem 23. Mai '45 mit Auslieferungen begonnen und waren dabei teilweise Zeugen erschütternder Szenen geworden, die der britischen Regierung das Problem vor Augen geführt hatten. Die Amerikaner wiederum sahen das etwas unbekümmerter: Erst als sie auf blutigen Widerstand stieß gegen die Repatriierung, wie zum Beispiel in Linz in Österreich, in Dachau, Kempten, Plattling und viele US-Wachsoldaten erklärt hatten, dass sie nicht mehr bereit seien, so einen distasteful job zu machen, änderte sie ihre Politik von Jalta und sparte ab dem Herbst '45 rund 300.000 Menschen von Repatriierung aus. Das waren Menschen aus dem Baltikum sowie Westukrainen und Weißrussland. Demjanjuk ist einer von den Westukrainern, der jetzt im Moment vor Gericht steht.

König: Wer als Sowjetbürger im Nazideutschland in einem Lager gewesen war, dann in die Heimat deportiert wurde, die Lager dort überlebte, wie erging es ihm danach?

Goeken-Haidl: Von den Kategorisierungen hatte ich schon gesprochen. Jeder Vierte erwartete Lagerhaft, die anderen Arbeitsbataillone, im Grunde waren das nur verschiedene Formen der weiteren Zwangsarbeit unter verschiedenen Etikettierungen. Die Menschen, die unbehelligt zurückgekehrt waren, das waren 43.000, waren nicht ganz sicher, nämlich die Filtrationsakten, die für jeden von diesen Leuten angelegt worden sind, waren ihnen vorausgeeilt, wurden ausgewertet. Und '46, '47 kam eine neue Verhaftungswelle gegenüber diesen Menschen. So wurde zum Beispiel eine junge Frau, eine Zwangsarbeiterin, die in München gewesen war, festgenommen, weil sie unglücklicherweise ihre Schuhe in eine amerikanische Militärzeitung eingewickelt hatte, die sie damals im DP-Lager gefunden hatte. Das reichte aus, um sie als amerikanische Spionin dann im Nachhinein, '46, '47 zu verhaften. Der Rest wurde regelmäßig einbestellt, in regelmäßigen Abständen in die NKWDs, in den lokalen NKWD. Es wurden ihnen immer sozusagen wie an einem Fließband die gleichen Fragen gestellt und wurden so praktisch damit, wie das in der Amtssprache in der Sowjetunion damals hieß, "geheimdienstlich bedient".

König: Am 24. Januar 1995, also vor 15 Jahren, wurde dieses, was da passiert ist, als Unrecht anerkannt von Boris Jelzin per Dekret. War das ein symbolischer Akt oder hat das den Betroffenen und ihren Familien wirklich noch auch materiell in ihrer ganzen Lage geholfen?

Goeken-Haidl: Es war so, dass das Thema bis in die 90er-Jahre hinein ja absolut tabuisiert war. Man sprach nicht darüber, wenn man in Kriegsgefangenschaft oder Zwangsarbeiterschaft gewesen war. Ich hab das selber während meines Studiums gesehen: Eine Großmutter sprach auf einmal nach 45 Jahren von jenem Thema, die ganze Familie war völlig überrascht. "Ona bila w germania babuschka", die Großmutter ist in Deutschland gewesen.

Insgesamt bedeutete das Dekret für die Leute leider nicht viel. Man muss das Alter der Herrschaften beachten. Die Jüngsten waren ja Jahrgang 1927, also der Mobilisierungsjahrgang. Also zum Jelzin-Dekret waren mindestens die Leute, die Männer schon 68 Jahre alt. Aber sie bekamen nun praktisch ein, wurden praktisch jetzt als Kriegsteilnehmer anerkennt – das waren sie bislang nicht. Sie konnten nach dem Jelzin-Dekret kostenlos U-Bahn fahren, bekamen besseren Zugang zu Medikamenten und anderen Hilfsmitteln und durften fortan bei den Paraden zum Siegestag mitmarschieren. Das war für sie natürlich eine moralische Rehabilitation – allerdings, wenn man ihre Situation anguckt, mit verwelkten Blümchen, verschlissenen Anzügen, abgelaufenen Schuhen. Die Zwangsarbeiter, die wurden entschädigt. Sie kennen ja das doch lange unwürdige Tauziehen der Bundesregierung mit der Wirtschaft, die deutsche Industrie hat die Zwangsarbeiter entschädigt, die Kriegsgefangenen sind aber dahingegen leer ausgegangen. Aber jetzt sind sie fast schon zu alt, um etwas von der moralischen Rehabilitierung zu haben.

König: Ist denn das Thema jetzt immer noch tabu in Russland?

Goeken-Haidl: Witzigerweise hat es ein Pendel gegeben, dass es nicht mehr mit Tabu behaftet war. Jetzt seit Putin dran ist, ist auch dieses wieder eher mit Tabuhaftigkeit behaftet. Die ganzen Archivdokumente, die ich damals habe einsehen können, '97 fortfolgende, sind jetzt schon wieder nicht mehr zugänglich. Also es ist immer noch problematisch, wenn man in Deutschland, oder wenn einer, wenn der Großvater, die Großmutter in Deutschland gewesen war. Es gilt immer noch als kleines Kainszeichen auf den Stirnen, wie das die Leute selber auch noch bezeichnen.

König: Nach dem Krieg wurden sowjetische Kriegsgefangene, KZ-Häftlinge und Zwangsarbeiter in ihre Heimat zwangsdeportiert – ein Unrecht, das erst vor 15 Jahren anerkannt wurde. Ein Gespräch mit der Historikerin Ulrike Goeken-Haidl. Ihr Buch "Der Weg zurück. Die Repatriierung sowjetischer Zwangsarbeiter und Kriegsgefangener während und nach dem Zweiten Weltkrieg" ist erschienen im Klartext-Verlag Essen. Frau Goeken-Haidl, ich danke Ihnen!

Goeken-Haidl: Ich bedanke mich!