Vom Juwel zur Betonwüste

Von Reinhardt Baumgarten · 08.07.2013
Zunächst waren es vor allem junge Menschen, die zivilen Ungehorsam leisteten und einen der letzten grünen Flecken im Zentrum Istanbuls verteidigten. Sie wollten dort kein neues Einkaufszentrum und keine teuren Wohnungen - sie wollten nicht noch mehr Beton in Istanbul.
"Wenn ihr so weitermacht, dann werden wir eine Sprache sprechen, die ihr Demonstranten versteht. Jede Geduld hat ein Ende. Niemand hat das Recht, die Türkei als ein Land darzustellen, in dem Terror tobt. Es ist schamlos, von arabischem Frühling und türkischem Frühling zu sprechen. Wie bekloppt seid ihr eigentlich?"

Recep Tayyip Erdogan sei ein sehr einsamer Herrscher, befindet der Politikwissenschaftler Cengiz Aktar von der Bahçesehir Universität.

"Er hat um sich herum aufgeräumt. Er ist allein. Die einzigen Leute, die ihm nahe kommen, sind seine Ja-Sager. Sie sind seine Geschöpfe. Sie existieren wegen ihm. Sie werden also niemals sagen, mein Herr, das geht so nicht. Die werden es niemals wagen, so etwas zu sagen. Seine demokratischen Verdienste sind gering. Für ihn bedeutet Demokratie, eine Wahl zu gewinnen. Das nennt man Majoritätentum in der Politikwissenschaft. Sobald solche Leute eine Wahl gewinnen, glauben sie, es stehe ihnen zu, zu machen, was immer sie wollen. Er entspricht dem ganz genau. Aber das geht nicht."

Regierungschef Erdogan ist zweifellos nach Staatsgründer Atatürk der einflussreichste Politiker der Republik Türkei. Er und seine Parteigänger haben aus einem schwächelnden Land in elf Jahren eine aufstrebende Wirtschaftsnation gemacht. Die Türkei weist beeindruckende Wachstumsraten auf. Nach China war die Türkei in der vergangenen Dekade das Land mit der höchsten Zunahme des Bruttoinlandprodukts unter den 20 größten Industriestaaten.

"Als wir die Regierung übernommen haben, befand sich die Türkei an 26. Stelle unter den Volkswirtschaften. Heute befindet sie sich an 17. Stelle. Somit zählt die Türkei zu den G-20-Ländern. Unser neues Ziel lautet jetzt: Die Türkei bis zu ihrem 100. Geburtstag im Jahre 2023 zu einer der zehn stärksten Volkswirtschaften der Welt zu machen."

In Europa ist die Türkei seit Jahren Nummer eins beim Wirtschaftswachstum. Im Tourismus hat sie sich mit deutlich mehr als 30 Millionen Besuchern per anno in der europäischen Spitzengruppe fest etabliert. Allein nach Istanbul, dem Ort der heftigsten Auseinandersetzungen, kamen 2012 rund elf Millionen Touristen. Doch das rasante Wachstum unter Regierungschef Erdoðan habe Schattenseiten, sagt der Politikwissenschaftler Cengiz Aktar.

"Der Preis für beschleunigtes Wachstum sollte nicht die Untergrabung geltender Gesetze sein. Das ist völlig inakzeptabel. Das ist auch der Grund, warum diese jungen Leute protestiert haben, protestieren und auch damit fortfahren werden. Er ist niemand, der weiß, was mitwirkende Demokratie bedeutet."

Gasmasken, Schutzbrillen, Helme – schnell haben sich fliegende Händler auf dem Taksim-Platz in den Junitagen des Jahres 2013 auf die Marktlage eingestellt. Der Aufstand im Gezi-Park ist keine Eintagsfliege: Zu tief sitzt der Verdruss über die Politik von Recep Tayyip Erdogan.

"Alle Entscheidungen werden von einem einzigen Mann getroffen. Der Bürgermeister von Istanbul existiert praktisch nicht mehr. Den kennt keiner mehr. Der Ministerpräsident entscheidet über alles."

Die Hügel von Çamlica im Stadtbezirk Üsküdar auf der asiatischen Seite von Istanbul. Spektakulär ist der Blick von hier über die 15-Millionen-Metropole.

Hochtrabende Pläne des Erdogans
Spektakulär solle auch sein, was auf dem Çamlica-Hügel in den kommenden Monaten entstehen soll, schwärmt der Bürgermeister von Üsküdar, Mustafa Kara.

Eine Moschee mit sechs Minaretten soll gebaut werden, dazu ein Konferenzsaal, ein Kunst- und Kulturhaus sowie eine Studienanstalt.Tausende Gläubige sollen in der dann größten Moschee Istanbuls Platz finden. So will es Bürgermeister Kara. Und so will es vor allem Regierungschef Erdogan.

"In Çamlica - diese Riesenmoschee, inshallah. Sie wird so geplant, dass man sie von allen Ecken der Stadt aus sehen kann."

Widerstand ist scheinbar zwecklos. Was sich der islamisch-konservative Ministerpräsident in den Kopf setzt, das will er auch verwirklichen. Vor allem dann, wenn es um Religion und um Bauvorhaben geht. Eng sind die Bande zwischen der religiös-konservativen AK-Partei und der türkischen Bauindustrie.

Der Çamlica-Hügel sei ein Naturschutzgebiet ersten Grades, kritisiert der Städteplaner Gürkan Alkan. Normalerweise dürfe dort überhaupt nicht gebaut werden.

"Wo baut man eine Moschee? Man baut sie dort, wo Menschen leben und ihre religiösen Bedürfnissen nicht erfüllen können, weil es keine Moschee gibt. Es ist offensichtlich, dass sich das Projekt der Groß-Moschee nicht an Bedürfnissen orientiert. In den Wohnorten um Çamlica gibt es genau 14 Moscheen."

Premier Erdogan will hoch hinaus. 107,1 Meter sollen die Minarette messen – im Gedenken an die Schlacht von Manzikert. Im Jahr 1071 besiegte ein muslimisch-türkisches Heer ein christlich-byzantinisches Heer und leitete die Eroberung Anatoliens ein. Erdoðan und seine AK-Partei wollen sich in Çamlica ein Denkmal setzen.

Istanbul werde zum grössten Teil durch Entscheidungen des Ministerpräsidenten regiert, stellt Gürkan Alkan bitter fest. Nach 20 Jahren als Bürgermeister der Stadt und Regierungschef des Landes wolle Erdogan seinen symbolträchtigen Bau.

Erdogan und seine Getreuen haben noch andere hochtrabende Pläne. Eine Seilbahn soll vom europäischen Stadtteil Mecediyeköy den Bosporus überspannen und Besucher zur neuen Großmoschee auf dem Çamlica-Hügel bringen. Istanbul bekommt einen Großflughafen mit einer angestrebten Kapazität von 150 Millionen Passagieren pro Jahr sowie eine dritte Brücke über den Bosporus. Beide Bauvorhaben dürften den Belgrader Wald, Istanbuls wichtiges Naherholungsgebiet, nachhaltig schädigen. Geplant ist auch ein Kanal parallel zum Bosporus als zweite Verbindung zwischen Schwarzem Meer und Marmarameer. Regelmäßig weiht Recep Tayyip Erdogan neue Shopping-Malls ein. Moscheen und Konsumtempel – das, so sagen Kritiker, seien die Orte der Anbetung dieser neoliberalen, turbokapitalistischen Regierung.

"Die Stadt Istanbul hat eine zentrale Bedeutung für den Machterhalt der AKP. Wer Istanbul regiert, der sitzt am Hebel. Die Angst, Istanbul zu verlieren, ist die Triebfeder dieser Bauwut. Der Bauboom und der Konsum in Istanbul schaffen einen wirtschaftlichen und politischen Wert. Diesen Wert will die AKP um keinen Preis verlieren.

Mann o Mann, wir haben genug,
Mann o Mann, wir sind es leid,
Was für eine Arroganz, welch ein Hass,
Komm langsam, langsam, der Grund ist bereitet.

Diese Stadt war ein Juwel dieser Welt. Sie ist zu einer Betonwüste geworden, zu einer Betonstadt. Sie ist zu einer unerträglichen Stadt geworden. Der Verkehr, die Luftverschmutzung und all das."

Löst Konflikte konfrontativ
Recep Tayyip Erdogan ist ein machtbewusster Politiker mit überbordendem Selbstvertrauen, das jetzt von einer erstarkenden Zivilgesellschaft herausgefordert wird. Erdogan war mächtig genug, das über Jahrzehnte omnipotente Militär in demokratische Schranken zu weisen. Er hat den religiösen Minderheiten in der nominell laizistischen Türkei mehr Rechte eingeräumt als alle seine Vorgänger. Er ist dabei, gemeinsam mit PKK-Chef Abdullah Öcalan den Kurdenkonflikt beizulegen, der in den vergangenen drei Jahrzehnten mehr als 40.000 Menschenleben gefordert hat. Recep Tayyip Erdogan hat sich um sein Land verdient gemacht. Vieles setze er jetzt aufs Spiel, weil er nicht begreife, wie moderne Demokratien funktionierten, urteilt der Politikwissenschaftler Cengiz Aktar.

"Er geht mit Konflikten konfrontativ um. Er kennt keine andere Politik als den konfrontativen Weg. Das ist das Problem. Deswegen berät er sich auch nicht oder will anderer Leute Ideen nicht hören. Deshalb macht er andere klein, jede Art von Opposition macht er klein. Deswegen unterschätzt er die jungen Leute. Er nennt sie arme Bettler, Hooligans und so weiter."

Hunderte von Demonstranten sind inzwischen festgenommen worden. Viele sollen nach geltenden Anti-Terrorgesetzen behandelt werden. Rache und Abrechnung scheint das Gebot der Stunde zu sein. Wer sind sie? Wer stellt sich Recep Tayyip Erdogan in den Weg? Wer versammelt sich nach der Gezi-Parkräumung Abend für Abend in den Parks von Istanbul, um für Demokratie und Mitsprache einzutreten?

"Ich bin Krankenschwester und arbeite in der Nachtschicht. Ich hab viele Verletzte gesehen. Menschen mit Schädelbruch oder Asthma, die durch das Gas litten. Da hab´ beschlossen, solidarisch mit zu sein."

"Soll er uns Chaoten nennen oder Außenseiter. Wir sind das Volk - und wir sind hier, um uns gegen Druck und Gewalt zu wehren."

"Ich bin ein Individuum. Ich bin eine türkische Staatsbürgerin. Ich bin eine Kemalistin. Ich demonstriere hier gegen einen Mann, der einen dreisten Stil hat und der sich uns gegenüber autoritär verhält. Ich bin hier, um die türkische Nation und meine Freunde zu verteidigen."

"Ich bin jemand aus dem Volk. Niemand hat mich gezwungen, hierher zu kommen. Hier sind so viele Menschen, die noch nie zuvor demonstriert haben. Die Menschen haben alles versucht. Sie haben Unterschriften gesammelt, Kritik auf Facebook gepostet. Aber es hat nichts genutzt. Schließlich sind wir hierhergekommen, um Präsenz zu zeigen. Die haben uns keinen Ausweg mehr gelassen. Wir versammeln uns, um zu sagen: Hier ist das Volk - und wir wollen Dich nicht!"

Bis vor kurzem noch war die Türkei eine Insel der Stabilität in einem Meer sie umgebender instabiler Staaten. Es grenzt an Wahnsinn, mit welchem Starrsinn Ministerpräsident Erdogan und seine Leute gesellschaftliches Mit- und Nebeneinander durch Rechthaberei, Kraftmeierei, Brutalität und der Unfähigkeit zum Konsens aufs Spiel setzen. Die Keile, die durch Erdogans Politik jetzt in die türkische Gesellschaft getrieben werden, verursachen tiefe Risse. Der Blick übers Mittelmeer und nach Süden zeigt, wohin eine Politik der Kriminalisierung ziviler Proteste in letzter Konsequenz führen kann.

Der Blick in die eigene Vergangenheit müsste den Regierenden in Ankara klar machen, wohin gesellschaftliche Spaltungen und Radikalisierungen führen. Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre lieferten sich linke und rechte Gruppierungen derart blutige Auseinandersetzungen, dass das Militär mit einem Putsch eingriff und die Türkei für viele Jahre unter einem bleiernen Mantel verschwand. Droht nun eine gesellschaftliche Spaltung entlang einer religiös-säkularen Bruchlinie?

Ein kluger Regierungschef, der das Wohl nicht nur seiner Anhänger und Klientel im Auge hat, sondern gesamtgesellschaftlich denkt, hätte in den vergangenen Wochen weniger wie ein rechthaberischer Machthaber, sondern mehr wie ein moderner Staatsmann gehandelt, der bereits viel erreicht hat und seine politischen Erfolge nicht mutwillig aufs Spiel setzt.