Vom Internat geprägt: Nigel Farage

Politiker in Rücktrittslaune

Nigel Farage, Vorsitzender der UK Independence Party, zeichnet sich siegesgewiss.
Nigel Farage, Ex-Vorsitzender der UK Indepence Party (Ukip) und Absolvent der Londoner Elite-Schule Dulwich College © picture alliance / dpa / Michael Kappeler
Psychohistoriker Nick Duffell im Gespräch mit Moderator Dieter Kassel  · 08.07.2016
Nigel Farage gibt sich gern als Mann des Volkes. Ist er aber nicht. Sondern er wurde wie David Cameron und Boris Johnson in einem Elite-Internat erzogen. Für den Psychotherapeuten Nick Duffell haben diese Schulen ein Problem: "Verantwortung lernt man dort nicht."
Wer in Großbritannien etwas auf sich hält und es sich leisten kann, schickt seine Kinder auf ein Elite-Internat. So auch die Familien Cameron, Johnson und Farage. Dass David, Boris und Nigel in jüngster Zeit vor allem durch Rücktritte bzw. Rückzüge aufgefallen sind, ist dem Psychotherapeuten und Psychohistoriker Nick Duffel zufolge kein Zufall. Elite-Internate produzierten schlechte Führer, sagt er. "Verantwortung lernt man nicht."
Bereits in ihrem siebten, achten oder neunten Lebensjahr würden die Kinder auf diese Boarding Schools geschickt und so weitgehend ohne Eltern aufwachsen. "Ohne Bindungen müssen sie sehr schnell eine Persönlichkeit bauen, die strategisch ist, die sich um sich selbst kümmert. Denn da ist keiner, der sie anfasst, der sie liebt. Das macht eine sehr isolierte Persönlichkeit", erklärt Duffel.

Das Interview im Wortlaut*:
Dieter Kassel: Großbritannien bekommt bald wieder eine Premierministerin, das ist nun so gut wie sicher, denn die männlichen Kandidaten, die sich bei der konservativen Partei zur Wahl gestellt hatten, die sind alle ausgeschieden – nur noch zwei Frauen sind übrig. Dass aber die Konservativen in England eine neue Chefin brauchen und das Land einen neuen Premierminister, welchen Geschlechts auch immer, das liegt am Referendum, am Brexit-Referendum. David Cameron, der bisherige Premierminister, hat das überhaupt erst ermöglicht und tritt deshalb jetzt zurück. Nigel Farage und Boris Johnson haben am allerintensivsten und aggressivsten für einen Austritt Englands gekämpft, haben ihre Wünsch erfüllt bekommen und dann sofort ihre jeweiligen politischen Karrieren beendet. Das mag merkwürdig sein, ist aber für den britischen Psychotherapeuten und Psychohistoriker Nick Duffell durchaus erklärbar. Er beschäftigt sich seit Langem mit dem britischen System der Eliteschulen, hat ein Buch darüber geschrieben mit dem Titel "Wounded Leaders", frei übersetzt so etwas wie "die beschädigte Elite". Ich hab mich vor dieser Sendung mit ihm unterhalten und hab Nick Duffell gefragt, ob man die Abtritte von Cameron, Johnson und Farage tatsächlich schlicht und ergreifend mit ihrer Erziehung erklären könne.
Nick Duffell: Sie müssen wissen, dass England nicht wie Deutschland oder andere europäische Länder ist. Unser Land ist von oben nach unten, top-down sagen wir. Die Führer, die die Öffentlichkeit erwartet, sind immer von diesen Eliteschulen. Wir hatten in den 70ern und 80ern ein bisschen Freiheit davon, aber jetzt geht es wirklich wie immer. Jetzt ist es ganz besonders in England: es ist sehr schwierig, von außen zu verstehen, wie das geht. Man muss hier einige Jahre leben, um das zu sehen.

In den Boarding Schools wachsen die Kinder ohne Bindung auf

Kassel: Aber warum ist denn das britische System der Eliteinternate so verheerend, was läuft da schief?
Duffell: Wissen Sie, das kommt vom britischen Empire, und das ist sehr gut, um militärische Kerle in Afrikas Mitten oder in Indien zu lassen, denn sie brauchen nicht so viel Komfort. Und alle die Länder, die neu reich werden, wollen, dass ihre Kinder wie die Russen und die indischen, sie wollen, dass ihre Jungens da erzogen werden. Das kostet über 40.000 Euro pro Jahr, das ist eine große Industrie bei uns.
Kassel: Das heißt natürlich, es ist sozial ungerecht, nicht jeder kann überhaupt seine Kinder auf so eine Schule schicken. Aber man könnte ja dann davon ausgehen, die, die Glück haben, da hingehen, das werden dann ganz großartige Menschen, aber offenbar ist das ja nicht so. Was ist denn das Schlimme an diesen Schulen? Ist es einfach das Alleingelassenwerden oder was ist es?
Duffell: Einerseits ist das Glück, und das ist ein Privileg, das ist klipp und klar, das geht sehr gut die Treppe herauf. Aber man muss wissen, dass diese Kinder von ihrem siebten, achten, neunten Jahre ohne Eltern sind, und ohne Bindungen müssen sie sehr schnell eine Persönlichkeit bauen, die strategisch ist, die sich um sich selbst kümmert, denn da ist keiner, der sie anfasst, der sie liebt. Das macht eine sehr isolierte Persönlichkeit, die in einer Gruppe leben kann, aber für Familienleben und für Intimität ist es eine sehr schlechte Formung.

"Verantwortung lernt man dort nicht"

Kassel: Was mir durch den Kopf gegangen ist bei diesen drei Politikern – Farage, Cameron und Johnson –, also ich hab immer geglaubt, eines lernt man doch wirklich an diesen Schulen, nämlich Verantwortung, Responsibility. Und mein Gefühl ist, wenn die nun eines nicht übernehmen im Moment, für das, was sie – ich nenne es so – in dem Vereinigten Königreich angerichtet haben, das ist Verantwortung. Heißt das, bei den dreien hat die Erziehung nicht funktioniert?
Duffell: Nein, Verantwortung lernt man nicht. Wenn man klein ist und wenn man allein ist und wenn man die Eltern vermisst - diese Kinder lernen sehr schnell, eine Maske zu tragen. Und diese Maske, das kann das ganze Leben dauern. Wenn einer eine solche Maske trägt, weiß man nicht mehr, wann er lügt und wann er nicht lügt. Wir haben einen Kerl wie Farage, der sich als Mann des Volkes ausgibt. Der ist kein Mann des Volkes! Er kommt aus der Elite, aus einer reichen Familie, er ist wie Cameron, wie Boris Johnson, er gehört zur Elite, und er präsentiert sich ganz anders, und vielleicht glaubt er das auch. Englische Politiker (...) sie wissen wirklich nicht, wie der Rest der Welt sie anschaut. Das kommt von dieser Maske, die sie tragen mit so viel Confidence. Unser Volk hat bis jetzt immer diesen Leuten vertraut, dass sie ein bisschen wie die Aristokraten der Vergangenheit sind.

Das Unterhaus ist wie eine Debating Society in Eton

Kassel: Aber wenn das stimmt, dann sieht es ja jetzt ziemlich düster aus für die Zukunft Großbritanniens, nicht nur wegen des Austritts aus der EU. Gibt es denn überhaupt Politiker, die von diesem Phänomen nicht betroffen sind? Die Conservative Party sucht ja gerade einen neuen Parteichef, eine Chefin wird es vermutlich werden – gibt es denn überhaupt Alternativen, das richtige Personal …
Duffell: Ja, natürlich. Wir hatten John Major und auch Margaret Thatcher und die meisten der Labour Party, außer Tony Blair, die aus normalen Familien kommen. Aber Sie müssen wissen, unser Land ist sehr aspirational, es schaut nach oben. Und wenn Sie das House of Commons ansehen und dieses Schreien von einer Seite bis zur anderen Seite, das ist genau wie eine Debating Society in Eton oder so was. Wir müssen etwas Rundes haben, wie in Schottland oder wie in, darf ich sagen, in Brüssel. Wir können nicht so weitermachen, es geht nicht. Das ist das Einzige, das von diesem Übel gekommen ist, dass viele Kommentatoren an den Rändern jetzt sagen, wir müssen etwas grundsätzlich verändern.
Kassel: Der britische Psychohistoriker und Psychoanalytiker Nick Duffell über die Rolle, die ihre Erziehung an britischen Eliteschulen beim Verhalten vieler englischer Politiker spielt. Das Buch, das Nick Duffell zuletzt darüber geschrieben hat, heißt "Wounded Leaders", ist aber bisher nur in englischer Sprache verfügbar.
* Gegenüber der gesendeten Fassung wurden einige Ausdrucks- und Grammatikfehler korrigiert.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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