Vom Hyperkonflikt zur Hyperdemokratie

11.06.2008
Jacques Attali unternimmt einen Ritt durch die Weltgeschichte, erspäht die großen Kräfte, die in der Geschichte walteten, und schreibt die Geschichte in die Zukunft fort. Mit Hilfe seiner historischen Analysen entwirft er in seinem Buch "Die Welt von morgen" ein Szenario für das 21. Jahrhundert.
Die Zukunft beginnt bald. Im Jahr 2035 werden die Finanz- und Handelsmärkte globalisiert und die Unternehmen so mächtig geworden sein, dass die amerikanische Vorherrschaft endgültig zu Ende geht. Die Welt wird kein Zentrum mehr haben, die Menschheit wird von der Macht des Geldes, gewaltigen Klimakatastrophen und unvorstellbar brutalen Kriegen bedroht sein. So könnte unsere Zukunft aussehen, warnt der Franzose Jacques Attali in seinem Buch - eine Mischung aus Wirtschaftsanalyse, Horrorszenario und Science-Fiction-Roman.

Man hätte dieses Buch auch eine kleine Geschichte "von allem" nennen können. Kein Thema, das Attali nicht streift: Umweltkatastrophen und Wirtschaftskrisen, die Überalterung der Weltbevölkerung, Zuwanderung, Nanotechnologie, selbst die Sexualpsychologie fehlt nicht. Auf knapp 250 Seiten erzählt Attali, Wirtschaftswissenschaftler und langjähriger Berater des französischen Präsidenten Francois Mitterand, in einer leicht zu lesenden, flotten Sprache mal eben die Geschichte der Welt vom Anbeginn des Lebens in den Ozeanen bis etwa zum Jahr 2060.

Wie ein gut gemachter Katastrophenfilm spielt sich die Geschichte der Menschheit vor dem Auge des Lesers im Zeitraffer ab. Ein wildes, buntes Zukunftsszenario entfaltet sich, zum Gruseln, zum Mitfiebern, zum Hoffen. Das ist anregend und unterhaltsam. In jeder Zeile ist das unverwüstliche Selbstbewusstsein des Autors spürbar. Seine Übertreibungen liefern Gedankenanstöße, helfen uns zu sehen, welche Gefahren und welche Chancen in den heutigen Technologien, Wirtschafts- und Politiksystemen stecken.

Um zu verstehen, wie unsere Zukunft aussehen kann, sagt Attali, muss man zuerst von der Vergangenheit erzählen. Attali glaubt an eine "Struktur der Weltgeschichte". Sicherlich, einiges ist ungewiss: Wird Nordkorea Atomwaffen besitzen? Wird die Medizin ein Mittel gegen Fettleibigkeit finden? Wird irgendwer eine neue Religion gründen? Aber das sind, vom ganz großen Standpunkt aus gesehen, Kleinigkeiten. Die großen Trends der Weltgeschichte, glaubt Attali, werden stets am Werk sein. "Die Welt gehorcht Gesetzen, die es uns ermöglichen, die Zukunft vorherzusehen." Daran glaubt Attali, und das ist die Grundlage seiner Spekulation.

Es wird viel passieren. Das Jahr 2035 wird der entscheidende Wendepunkt sein. Dann verliert Amerika endgültig seine Vormachtsstellung und zum ersten Mal steht die Welt ohne wirtschaftliches und kulturelles Zentrum da. Die erste Zukunftswelle rollt an, das Hyperimperium: Es wird kaum noch soziale Institutionen und Einrichtungen geben. Die Menschen sind einsam und überwachen sich selbst. Mit den neuesten technologischen Errungenschaften misst jeder selbst, wie gesund oder krank er ist, wie sparsam oder verschwenderisch. Auf die Diagnose folgt die Selbstreparatur, deren letzter Schritt das Selbstklonen sein wird.

Das Leben im Hyperimperium ist ein Horrorszenario. Doch es kommt noch schlimmer. Denn die zweite Zukunftswelle ist der Hyperkonflikt. Mit neuen Waffen werden erbitterte Kämpfe ausgetragen, um Wasser und Land, für die eigenen Werte und für die Zerstörung der Werte anderer.

Attali will seine Leser erschrecken, aber nicht vergraulen. Es könnte so fürchterlich werden, doch glauben möchte er das nicht. Wenn im Jahr 2060 das Zeitalter der Hyperdemokratie anbricht, dann werden sich die Guten durchgesetzt haben, diejenigen, für die der Andere ein Wert an sich ist. Sie werden die Macht ergreifen und ein neues soziales, ökologisches und globales Gleichgewicht herstellen. Die Hyperdemokratie wird triumphieren, diese "höchste Organisationsform der Menschheit", der "höchste Ausdruck unserer Freiheit" und der "Motor der Weltgeschichte".

Kann man das ernst nehmen? Dieses Buch ist mit Vorsicht zu genießen - und vielleicht auch mit Humor. Es ist keine sorgfältige Analyse, sondern ein Gedankenspiel. Jacques Attali hat über 30 Bücher veröffentlicht. Man merkt dem Buch das Tempo an, in dem es geschrieben worden sein muss, nicht immer werden Details, Zahlen und Fakten allzu genau genommen. Die Strukturen der Weltgeschichte à la Attali, auch daran muss man nicht glauben, keines seiner Zukunftsszenarien ist so gut begründet, dass es besonders wahrscheinlich erscheint. Das Buch ist ein Gedankenexperiment, das eine Reihe möglicher kleiner und großer Katastrophen durchspielt, und wie ein guter Katastrophenfilm hat es eine reinigende Wirkung: Wie gut es uns doch hier in Europa zur Zeit geht, denkt man nach der Lektüre, wie schön und reichhaltig die Welt ist. Und wie wenig selbstverständlich das ist.

Rezensiert von Sibylle Salewski

Jacques Attali: Die Welt von morgen. Eine kleine Geschichte der Zukunft
Aus dem Französischen von Caroline Gutberlet
Parthas Verlag, Berlin 2008
248 Seiten, 19,80 Euro